Die Erfahrung gelebter Spiritualität –
Sieben Wegweiser zum Erwachen | Roger Walsh
Roger Walsh (MD, Ph.D.)
ist Professor für Psychiatrie, Philosophie und Anthropologie an der Universität von Kalifornien. Er ist bekannt für seine Arbeit auf dem Gebiet veränderter Bewusstseinszustände bei spirituellen Erfahrungen und gilt als Experte der transpersonalen Psychologie und den Auswirkungen von Meditation auf die physische und psychologische Gesundheit des Menschen.
Einleitung
Roger Walsh hat dieses Buch insbesondere für Menschen geschrieben, die auf der Suche nach einer Spiritualität sind, die mehr auf Erfahrung als auf den Glauben an etwas begründet ist. Dabei geht es im auch um die Beantwortung der Frage, wer und was der Mensch in seiner Essenz wirklich ist. Nach eigenen persönlichen= Krisen hat er für sich eine Antwort auf diese Frage gefunden. Als er seine Probleme in einer Therapie klären und lösen wollte, passierte etwas, was er wie folgt in diesem Buch beschreibt:
„Die Therapie lehrte mich, meine Aufmerksamkeit nach innen zu lenken, und als ich mein eigenes Bewusstsein erforschte, entdeckte ich ein nie geahntes inneres Universum, so riesig und geheimnisvoll wie das äußere, das mich umgab. Das war buchstäblich die größte Erschütterung meines Lebens. Hier fand ich eine innere Welt der Gedanken und Vorstellungen, Bilder und Intuitionen, unterschwelligen Motive und Gefühle, die ich überhaupt nicht wahrgenommen hatte. Doch diese innere Welt, soviel begriff ich, war der Schlüssel zum Verständnis des Geistes und meiner selbst, und sie hatte eine unschätzbare Weisheit und Lebensführung zu bieten. Ich war innerlich blind und mir selbst entfremdet, und als ich mit frischen Augen um mich blickte, kam es mir so vor, als ob die meisten Menschen an einer ähnlichen Blindheit litten.“
Diese Erfahrung veränderte sein Leben und offensichtlich wurde zu einem Ziel seines Lebens, auch andere Menschen aus ihrer Blindheit zu diesem Erwachen eines neuen Bewusstseins zu führen, in dem wirkliche Spiritualität gelebt werden konnte. Im folgenden zitiere ich überwiegend die Ergebnisse seiner Forschung von spirituellen Erfahrungen in allen Religionen und in der Geschichte der Menschheit sowie die Auswirkungen spiritueller Praktiken auf das psychologische und körperliche Befinden der Praktizierenden.
Spiritualität und Religion
„Zunächst gilt es zwischen den Bezeichnungen Religion und Spiritualität zu unterscheiden. Das Wort Religion hat viele Bedeutungen und bezieht sich vor allem auf das Heilige und die höchsten Werte des Lebens; Spiritualität dagegen bezieht sich auf die unmittelbare Erfahrung des Heiligen. Spirituelle Praktiken helfen uns, das Heilige – das Zentralste und Wesentlichste in unserem Leben- selbst zu erfahren.“
Erwachen
„Das höchste Ziel der spirituellen Praxis ist das Erwachen. Das heißt, dass wir unser wahres Selbst und unsere Beziehung zum Heiligen erkennen. Die Praxis bietet unterwegs jedoch noch zahlreiche andere Gaben. Seit Jahrtausenden haben die Weisen aller Traditionen die Wohltaten gepriesen, die den Praktizierenden auf dem spirituellen Weg zuteil werden. Das Herz beginnt sich zu öffnen, Furcht und Zorn schmelzen dahin, Gier und Eifersucht schwinden, Glück und Freude nehmen zu, Liebe kommt zum Erblühen, Friede tritt an die Stelle von Aufgeregtheit, Fürsorge für andere erwacht, Weisheit reift und seelische und körperliche Gesundheit nehmen zu.“
Auswirkungen auf die Psyche
„Am bekanntesten unter den psychischen Wohltaten ist die Entspannung, die Angst vermindert und Seelenfrieden fördert. Andere Auswirkungen sind sogar noch verblüffender, unter anderen eine erhöhte Kreativität, Intelligenz und intellektuelle Leistungsfähigkeit. Spirituell Praktizierende verfügen über mehr Selbstkontrolle und sind besser dazu imstande, sich zu verwirklichen. Sie entwickeln größere Sensibilität, mehr Einfühlungsvermögen und erleben mehr Befriedigung in ihren Beziehungen. Sie konsumieren weniger Alkohol und Drogen und leiden weniger unter sex- und aggressionsbedingten Konflikten.“
Auswirkungen auf den Körper
„Die positiven Auswirkungen auf den Körper sind ebenfalls erstaunlich. Spirituelle Praxis kann Stress, hohen Blutdruck und den Cholesterinspiegel herabsetzen, Schlafstörungen, Muskelkrämpfe und Krankheiten, von Migräne bis zu chronischen Schmerzen, lindern. Sie kann sogar Alterserscheinungen mildern und das Leben verlängern. Eine Studie der Harvard Universität konnte nachweisen, dass achtzigjährige Pflegeheimpatienten sich glücklicher fühlten, bessere Körperfunktionen hatten und länger lebten, nachdem sie begonnen hatten zu meditieren, als andere, die nicht meditierten.“
Unser wahres Selbst finden
„Im Lauf der Zeit vollbringt gelebte Spiritualität in unserem Herzen, Geist und Leben wahre Wunder der Transformation. Wenn das Herz sich öffnet und der Geist klarer wird, eröffnen sich uns die grenzenlosen Tiefen des Geistes.
Dort, in unserem Inneren, machen wir schließlich die tiefste, bedeutendste und wichtigste Entdeckung, zu der ein Mensch fähig ist. Wir finden in unserem Inneren unser wahres Selbst und begreifen, dass wir nicht nur mehr sind, als wir dachten, sondern mehr, als wir uns vorstellen können. Wir erkennen, dass wir eine Schöpfung des Heiligen, mit dem Heiligen innig und ewig verbunden, vom Heiligen begnadet und für immer von ihm getragen sind.
Dies ist die größte aller Entdeckungen, das größte aller Geheimnisse und das kostbarste Geschenk. Es ist der Ursprung und das Ziel der großen Religionen. Es ist das Ziel unserer Suche, die Antwort auf unsere lebenslange Sehnsucht. Das ist die Glückseligkeit des Mystikers, die Quelle einer überwältigenden, dauerhaften Freude. Diese Entdeckung ist die zentrale Botschaft der großen Religionen und die Ursache ihres ekstatischen Jubels:
‚Das Reich Gottes ist inwendig in euch.‘ (Luk 17,21)
‚Wer sich selbst erkennt, erkennt seinen Herrn.‘ (Islam)
‚Er ist in allem, und alles ist in Ihm.‘ (Judentum)
Jahrhunderte davor haben chinesische Weise Ähnliches zum Ausdruck gebracht:
‚Wer sein eigenes Wesen vollkommen kennt, der hat den Himmel erkannt.‘ (Mencius, Konfuzianismus)
‚In den Tiefen der Seele erblickt der Mensch das Göttliche, das Eine.‘ (Buch der Wandlungen).
Auch die indische Überlieferung kam zu derselben Einsicht:
‚Atman (individuelles Bewusstsein) und Brahman (universelles Bewusstsein) sind eins.'(Hinduismus).
‚Schau in dich hinein, du bist der Buddha.‘ (Buddhismus)
Ekstatische Erkenntnisse wie diese stellen das höchste Ziel und die schönste Entfaltung der spirituellen Entwicklung dar. Die Worte mögen unterschiedlich lauten, doch die zugrunde liegenden Erfahrungen deuten auf Übereinstimmungen der Weltreligionen mit der ewigen Philosophie und immerwährenden Praxis hin.“
Die immerwährende Philosophie
Gelehrte bezeichnen den gemeinsamen Wesenskern religiöser Weisheit als immerwährende Philosophie, als philosophia perennis. Warum immerwährend? Weil diese tiefen Einsichten in das Leben vieler Jahrhunderte hinweg in allen Kulturen Bestand hatten und von den großen Weisen aller Zeiten gelehrt wurden.
Im Lauf von Jahrtausenden entstanden, ist die ewige oder immerwährende Philosophie ein Schatzhaus der gesammelten Weisheit der Menschheit. Von unendlicher Weite und abgründiger Tiefe, bietet sie zahllose Erkenntnisse über das Wesen von Leben und Liebe, Gesundheit und Glück, Leiden und Erlösung.
Ihren Kern bilden vier entscheidende Einsichten in die Wirklichkeit und die menschliche Natur – besser gesagt: Beobachtungen, da sie auf der unmittelbaren Erfahrung fortgeschrittener spiritueller Praktiker beruhen.
1. Es gibt zwei Bereiche der Wirklichkeit.
„Der erste ist die alltägliche Wirklichkeit, die uns allen vertraut ist, die Welt der physischen Objekte und Lebewesen. Dies ist der Bereich, der uns mittels unserer Sinne zugänglich ist und von der Naturwissenschaft, etwa der Physik und Biologie, erforscht werden kann.
Doch jenseits dieser vertrauten Phänomene gibt es einen anderen, weitaus subtileren und tieferen Bereich: den des Bewusstseins, des Geistes oder des Tao.= Diese Welt kann nicht mit physischen Sinnen und nur indirekt mit den Instrumenten der Wissenschaft erkannt werden. Außerdem erschafft und umfasst dieser Bereich den physischen und ist dessen Ursprung. Dieses Reich unterliegt nicht den Grenzen von Raum und Zeit oder physischen Gesetzen, da es deren Urheber ist, und daher ist es grenzenlos und unendlich, zeitlos und ewig.“
2. Menschliche Wesen haben teil an beiden Bereichen.
„Wir sind nicht nur physische, sondern auch geistige Wesen. Wir haben einen Körper, doch im Kern unseres Wesens, in der Tiefe unseres Geistes besitzen wir ein Zentrum transzendenter Bewusstheit. Dieses Zentrum wird als reines Bewusstsein, Geist oder Selbst umschrieben und im Judentum als neshamah, im Christentum als Seele oder göttlicher Funke, im Hinduismus als Atman und im Buddhismus als Buddhanatur bezeichnet. Dieser göttliche Funke steht in einer inneren Beziehung zum heiligen Urgrund der gesamten Wirklichkeit. In manchen Überlieferungen gilt er sogar als untrennbar von und identisch mit ihm. Wir sind vom Heiligen also nicht getrennt, sondern innig und für ewig mit ihm verbunden.“
3. Menschliche Wesen vermögen ihren göttlichen Funken und dessen heiligen Ursprung zu erkennen.
„Das heißt, und das ist entscheidend, dass die Thesen der immerwährenden Philosophie nicht blind akzeptiert werden müssen. Vielmehr kann jeder von uns sich selbst überprüfen und sich aufgrund unmittelbarer Erfahrung selbst ein Urteil bilden. Obgleich es unmöglich ist, die Seele oder das innerste Selbst als etwas Nicht-Körperliches mit den Sinnen oder den Instrumenten der Wissenschaft zu erkennen, kann es mittels sorgfaltiger Innenschau dennoch erkannt werden.
Das ist nicht unbedingt ein leichtes Unterfangen. Jedem kann zwar die Gnade einer spontanen Einsicht zuteil werden, doch für eine klare, nachhaltige Schau unserer heiligen Tiefen ist gewöhnlich erhebliche Übung von Nöten. Dies ist der Zweck der spirituellen Praxis.
Wenn der Geist still und klar ist, können wir unser Selbst unmittelbar erfahren. Dies ist keine intellektuelle Theorie, sondern eine unmittelbare Erkenntnis, eine direkte Intuition, in der man den göttlichen Funken nicht nur schaut, sondern sich mit ihm identifiziert und seine Wirklichkeit wahrnimmt.
Weise des Judentums und Sufismus, von Platon bis zu Buddha, von Meister Eckhart bis Laotse waren sich darin einig. Nicht durch Vernunft ist diese Einsicht zu erlangen, heißt es in der Katha Upanishad, und ein christlicher
Mystiker wie Johannes vom Kreuz schrieb: Die Argumente der Weisen können sie nicht fassen. Diese hohe Weisheit ist von solcher Vorzüglichkeit, dass kein Vermögen der Wissenschaft je hoffen kann, sie zu erreichen.
4. Die Erkenntnis unserer menschlichen Natur ist nach der immerwährenden Philosophie das Summum Bonum: das höchste Ziel und höchste Gut des menschlichen Daseins.
„Daneben verblassen alle anderen Ziele; andere Wonnen können nur zum Teil befriedigen. Wie die Weisen unterschiedlicher Überlieferungen und Zeitalter uns künden, ist keine andere Erfahrung so ekstatisch, keine Errungenschaft so lohnend, kein Ziel für einen selbst oder für andere so segensreich.
Wiederholen wir noch einmal: Es handelt sich nicht um ein willkürliches Dogma, das wir blind zu akzeptieren haben, sondern um den Ausdruck einer unmittelbaren Erfahrung von Menschen, die ihrer Früchte selbst teilhaftig wurden. Wir alle sind eingeladen, sie selbst zu prüfen.
Wenn wir das Wesentliche dieser vier Thesen herausfiltern, so lautet die zentrale Botschaft der ewigen Philosophie, dass wir uns auf tragische Weise unterschätzt haben. Es ist ein trauriger Irrtum, uns bloß als vergängliche Körper statt als zeitlosen Geist zu betrachten; als getrenntes, leidendes Ich statt als glückseligen Buddha; als bedeutungsloses Häufchen Materie statt als gesegnete Kinder Gottes.“
Die zentrale Botschaft lautet in allen Überlieferungen gleich:
Du bist mehr, als du denkst! Schau tief in dein Inneres, und du wirst finden, dass dein Ich nur eine winzige Welle auf dem riesigen Ozean deines wahren Selbst ist. Blick nach innen, und im Zentrum deines Geistes, in der Tiefe deiner Seele wirst du dein wahres Selbst finden. Du wirst entdecken, dass das Selbst innig mit dem Heiligen verbunden ist und dass du an der grenzenlosen Glückseligkeit des Heiligen Anteil hast.“
Die siebenfache Praxis
„Es stellt eine Herausforderung dar, uns selbst zu verändern. Zum Glück gibt es einige allgemeine Grundsatze, die uns das erleichtern und bei jeder der sieben Praktiken.“
Diese siebenfache Praxis mit vielen Anregungen für eine gelebte Spiritualität füllt den größten Teil dieses Buches aus. Hier eine Übersicht:
Praxis I
Die Motivation transformieren: Die Begierden reduzieren und finden, was die Seele wirklich begehrt.
Praxis II
Emotionale Weisheit pflegen: Das Herz heilen und lieben lernen.
Praxis III
Ethisch leben: Sich gut fühlen, indem man Gutes tut.
Praxis IV
Den Geist (mind) sammeln und zur Ruhe bringen.
Praxis V
Die spirituelle Vision wecken: Klarsicht und Erkennen des Heiligen in allen Dingen.
Praxis VI
Pflege der spirituellen Intelligenz: Weisheit und Verständnis des Lebens entwickeln.
Praxis VII
Geist (spirit) im Handeln zum Ausdruck bringen: Einüben von Großmut und der Freude des Dienens.
Zu jeder hier aufgeführten= Praxis gibt es zahlreiche Übungen, zu denen Roger Walsh folgendes schreibt:
„Diese Übungen sind besonders wertvoll, weil sie im Alltag anwendbar sind. Es ist nicht nötig, dass sie ihren Job aufgeben oder in ein Kloster flüchten. Kloster können für eine spirituelle Praxis großartig sein, aber dasselbe gilt für das gewöhnliche Leben. Diese Übungen sind so beschaffen, dass sie tägliche Verrichtungen in Gelegenheiten zum spirituellen Erwachen verwandeln.“
Quelle:
Die Erfahrung gelebter Spiritualität: Sieben Wegweiser zum Erwachen
von Roger Walsh und Susanne Schaup.
Theseus Verlag Stuttgart
Gebundene Ausgabe – April 2008
ISBN 978-3-7831-9515-6
Weiter Informationen zu Roger Walsh, gelebter Spiritualität und der „immerwährenden Philosophie“:
http://en.wikipedia.org/wiki/Roger_Walsh
Philosophia perennis (lat. immerwährende Philosophie)