Liebe und tue was Du willst – Hans Piron
Liebe und Wille in Einklang bringen – eine Lebensaufgabe
Vielleicht haben Sie diese Aufforderung schon einmal gehört oder gelesen. Sie stammt vom Kirchenlehrer Augustinus (354-430 n. Chr.) Er erläuterte dies, indem er sagte „Hab im Grund Deines Herzens die Wurzel der Liebe. Aus dieser Wurzel kann nichts Schlechtes kommen.“
Anmerkung
Dieser Artikel wurde ursprünglich im Jahr 2005 für die Zeitschrift „balance-online“ von Hans Piron verfasst und online gestellt. Balance-online hat ihre Website geschlossen. Da der Artikel sich großer Beliebtheit erfreute und er thematisch zum Buch „Das Leben leben“ passt wird er hier erneut veröffentlicht. Dieser Artikelinhalt findet sich nicht im Buch.
Tauschgeschäft Liebe
Lieben und Wollen in Einklang zu bringen bedeutet, sich zu einem für sein Handeln voll verantwortlichen, reifen, erwachsenen Menschen zu entwickeln. Das wird uns in unserer Kultur und durch unsere Erziehung vor allem dadurch erschwert, dass die Bedeutung der Begriffe Liebe und Wille nur in einer verzerrten Weise vermittelt werden.
Wenn wir gelernt haben, dass Bedingungen erfüllt werden müssen, um geliebt zu werden, dann sind wir auch geneigt, Bedingungen mit unserer Liebe zu verbinden. Wenn wir erfahren haben, dass wir mit unserer Angst vor Liebesverlust manipuliert werden können, dann können auch wir dazu tendieren, mit Liebe zu belohnen und mit Liebesverlust zu bestrafen, um andere für unsere Vorstellungen gefügig zu machen. Liebe versteht man auch häufig als ein Tauschgeschäft. ‚Du gibst mir etwas und ich gebe dir etwas hierfür zurück‘. Das alles hat mit der wirklichen Bedeutung von Liebe nichts zu tun.
In der Kindheit wurden auch die ersten Erfahrungen mit dem Willen gemacht. Zumindest in der Vergangenheit wurde meistens einem Kind vermittelt, dass es nichts zu wollen hat. Dabei sollte es eigentlich selbstverständlich sein,dass bei der Erziehung eines Kindes zum Erwachsenen die Entwicklung des eigenen Willens ein wichtiges Ziel ist.
Stattdessen wurde und wird auch heute noch sehr häufig das Gegenteil verfolgt, nämlich „dass man dem Kind so früh wie möglich seinen ‚Willen‘ nehmen müsse,“ (Alice Miller in „Am Anfang war Erziehung“). So fällt es vielen Erwachsenen schwer, einen Satz auszusprechen der mit „Ich will…….“ beginnt. Da klingt noch im Ohr: „Du hast nichts zu wollen!“.
Diese Erziehung eines Kindes zu einem gut entwickelten Willen ist nicht leicht, weil gleichzeitig dem Kind auch seine Grenzen aufzuzeigen sind.
Wille, Freiheit und Verantwortung
Rollo May, Psychoanalytiker, schreibt in seinem Buch „Liebe und Wille“: „Die ererbte Grundlage unserer Fähigkeit zu wollen und zu entscheiden ist unwiderruflich zerstört worden.“
Er betrachtet es „als tragisch, dass dies gerade in einer Zeit der Fall ist, in der ständig schicksalhafte Entscheidungen getroffen werden müssen und verantwortliches Handeln mehr denn je notwendig ist“. Er führte dies in erster Linie auf Freud zurück, von dem er sagt, „dass dieser das Bild eines Menschen vermittelt hat, der nicht mehr treibt sondern getrieben wird.“
Ohne eigenen Willen ist jedoch kein verantwortliches Handeln möglich. Wenn ich erfülle, was andere von mir wollen, dann kann ich die Verantwortung auch immer auf andere abwälzen. Erich Fromm hat sich dieser Thematik sehr eindrucksvoll in seinem Buch „Furcht vor der Freiheit“ angenommen.
Der Begriff Wille ist häufig mit einem negativem Beigeschmack verbunden. Auch dies ist auf ein verzerrtes Verständnis von Wille zurückzuführen. Wille wird oft in Verbindung gebracht mit Egozentrik, Eigensinn, Sturheit, Verbissenheit, Rücksichtslosigkeit und Macht haben wollen über andere. Da wird der Willezu einem Knüppel, mit dem man sich selbst und andere zu etwas zwingt.
Der „gut entwickelte“ Wille
Was bedeutet es nun, einen gut entwickelten Willen zu haben, der klar und damit unverzerrt ist? In der letzten Ausgabe der BALANCE® habe ich unter der Überschrift „Psychosynthese – eine Psychologie mit Seele“ das von Roberto Assagioli ( Arzt und Psychiater, 1888 -1974) psycho-spirituelle Modell der Psychosynthese vorgestellt.
Das„Ich“ oder „Personales Selbst“ werden hier als ein Zentrum definiert, in dem man neben einer bewussten Wahrnehmung auch bewusst Entscheidungen treffen kann, dass man hier „Ja“ und „Nein“ sagen kann. Das bedeutet, bewusst agieren zu können und nicht aus programmierten Verhaltensmustern auf äußere Reizenur zu reagieren. In diesem Zentrum unseres „Ich’s“ ist so die psychologische Funktion des Willens angesiedelt.
Assagioli hat Klarheit in diese zum Teil widersprüchlichen Darstellungen des Willens gebracht. Er hat deutlich gemacht, dass Wille mehr ist als nur der Ausdruck von Kraft und Durchsetzungsvermögen. Er ging davon aus, dass zu einem gut entwickelten Willen drei Aspekte gehören.
1. Stärke, Durchsetzungsvermögen
Dieser Aspekt bedeutet, dass zu einem gut entwickelten Willen das Vorhandensein von Kraft, vor allem Entscheidungskraft und Durchsetzungsvermögen, gehört, um Angestrebtes durchführen zu können. Das ist das, was die meisten Menschen mit Willen verbinden: Kraft und Stärke. Wille braucht natürlich Stärke. Aber Kraft allein ist blind und unsensibel. Sie kann uns und andere verletzen. Um die Ausübung unseres Willens effektiv und sinnvoll zu machen benötigen wir zwei weitere Aspekte:
2. Gewandtheit (Skillfulness)
Das gewünschte Ergebnis muss mit einem angemessenen Aufwand an Energie erreicht werden. Dies setzt ein gewisses Maß an Intelligenz, Klugheit und Planung voraus, die dafür sorgen, dass die eingesetzten Kräfte sinnvoll eingesetzt werden. Kraft und Gewandtheit allein bleiben aber immer noch verzerrte Formen des Willens, weil man aus egoistischen Motiven immer noch andere manipulieren, missbrauchen und schädigen kann. Darum ist der folgende Aspekt besonders wichtig.
3. Güte (Liebe)
Dieser Aspekt des Willens schließt die Qualitäten von Liebe und Mitgefühl für andere Menschen und das ganze Umfeld ein, in dem der Mensch lebt. Dadurch wird ausgeschlossen, dass man unter Einbeziehung des „guten Willen“ etwas wollen kann, das Schaden bei sich selbst, bei anderen und in der Umwelt anrichten kann. Diese drei Aspekte gehören unzerrtrennbar zu einem gut entwickelten Willen. Der gute Wille ohne Stärke und Gewandtheit kann zwar voller guten Absichten sein, die aber mangels Kraftnicht umgesetzt werden können. Durch diesen letzten Aspekt der Einbeziehung von Liebe beim Wollen und Handeln kann man auch die Aufforderung von Augustinus „Liebe und tue was Du willst!“ besser verstehen.
Individualität und Spiritualität
Während der Wille die Individualität des Menschen in einer sich selbstbewussten Persönlichkeit möglich macht, kommt die Liebe aus unserer spirituellen/transpersonalen Natur.
Auf dieser Ebene ist uns bewusst, dass wir in unserer Essenz kein abgespaltenes, getrenntes und isoliertes Lebewesen, sondern ein Teil eines größeren Ganzen sind. Da wird eine Verbundenheit mit der Ganzheit des Universums wahrgenommen, so wie eine Körperzelle mit der Ganzheit des Körpers verbunden ist.
Egozentrisches Verhalten kann so aus einer vermeintlichen Getrenntheit auch durchaus mit einer Krebszelle verglichen werden, die sich vom Körper absondert. Auch hier ist die Wirkung in gleicher Weise zerstörerisch.
Einheit und Verbundenheit, Losgelöstheit von Raum und Zeit, können besonders in der Meditation erfahren werden. Diese Erfahrungen sind aber u.a. auch in der Begegnung mit der Natur und in einer tiefen Liebesbeziehung möglich. Auf dieser spirituellen Ebene kann der Wille auch einen transpersonalen Charakter bekommen. Dann nämlich, wenn wir durch unsere intuitiven und inspirativen Kräfte klare Einsichten und Erkenntnisse für gute und richtige Entscheidungen erhalten. So gibt es im Modell der Psychosynthese die Begriffe eines personalen wie auch transpersonalen Willens.
Egoismus und Eigenliebe sind nicht dasselbe
Aus diesem Bewusstsein, Teil eines größeren Ganzen zu sein, kann auch die urchristliche Botschaft „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ besser interpretiert werden. Diese Aufforderung verdient ebenso wörtlich genommen zu werden wie die von Augustinus. Denn sie legitimiert nicht nur die Liebe zu sich selbst, sondern macht auch deutlich, dass die Liebe zu sich selbst die Voraussetzung dafür ist, dass man auch andere lieben kann. Lieben muss nicht immer mit Gefühlen einhergehen,sondern kann hier ein bedingungsloses Annehmen und Respektieren seiner selbst und anderer bedeuten.
Wille und Liebe in Einklang bringen
Es ist eine Lebensaufgabe, weil es wohl eine der größten Herausforderungen unseres Lebens sowohl auf dem Weg zu einer reifen Persönlichkeit wie auch zu einem ganzen und heilen Menschen bedeutet. Wer sich dieser Herausforderung stellt, wird zunächst eine Bestandsaufnahme darüber machen müssen, wie sein Wille entwickelt ist und bei welchen Aspekten es Schwächen gibt.
Wenn es an Entscheidungskraft, Durchsetzungsvermögen, Ausdauer, Konzentration und Ähnlichem mangelt, so geht es darum, diesen Aspekt zu stärken. Dabei ist es wichtig, sich selbst gut zu motivieren, sich beispielsweise vorzustellen, wie das Leben sein könnte, wenn man mit mehr Selbstbestimmung agiert statt durch anerzogene Verhaltensmuster auf Reize von außen zu reagieren.
Dies ist sehr oft auchmit der Herausforderung verbunden, etwas zu entscheiden und zu tun, was nicht immer das Wohlwollen anderer Menschen hervorruft. Da kann es geradezu eine Sucht nach Liebe und Anerkennung geben, die zur Abhängigkeit und Selbstentfremdung führt.
Es setzt auch voraus, dass man weiß, was man wirklich will.
Für den, der sich bei seinem Handeln leicht verzettelt, nur schwer seinen Weg zum gewünschten Ziel findet, gilt es, mit mehr Klarheit und Bewusstheit die einzelnen Schritte zu planen, um das gewünschte Ergebnis zu erreichen. Wichtig auch, sich die Konsequenzen seinen Handelns vorab bewusst zu machen. Auch das bedeutet, mit mehr Verantwortung zu handeln. Wer mehr aus egoistischen und eigennützigen Motiven zu handeln gewohnt ist, für den heißt es, den Trieben der Erhaltung und Selbstbehauptung, die im besitzen und dominieren wollen zum Ausdruck kommen, zu kontrollieren. Die „Güte“ des Willens ist der Ausdruck der eigenen Liebesfähigkeit, anderen und sich selbst gegenüber.
Lieben und Wollen in Einklang zu bringen bedeutet, sich bewusst zu sein, dass wir als Menschen „auf dieser Welt, aber nicht von dieser Welt sind“, so wie es die Sufis, die Mystiker des Islams ausgedrückt haben. Auf dieser Welt leben wir als Individuen in der Dualität, in der Beziehung von Ich und Du. Hier müssen wir fähig sein, zu unterscheiden, Grenzen zu ziehen und zu entscheiden.
Dazu brauchen wir unseren Willen. Im Bewusstsein, dass wir in unserer Essenz ein spirituelles Wesen sind, das nicht von dieser Welt ist, wird Liebe zu unserer wahren Natur und damit zu etwas Selbstverständlichem bei unserem Wollen und Handeln. In diesem Bewusstsein sind wir ganz und heil.
Das Weiterbestehen der Menschheit in der Zukunft wird wahrscheinlich von der Frage abhängig sein, ob dies einmal das Bewusstsein aller Menschen sein wird, dass Wollen und Handeln in Einklang mit wirklicher Liebe geschehen.
Hans Piron