Spiritualität und Religion – H.Piron

Um was es geht!

Häufig hört oder liest man, dass viele Menschen sich von den Religionen der Kirchen abwenden und zu einer neuen Art von Spiritualität finden.
Ich bin vielen solcher Menschen begegnet, die unabhängig von den Religionen, mit denen sie aufgewachsen sind, etwas in ihrem Leben gefunden haben, das sich weniger von einem Glauben an etwas als aus eigenen Erfahrungen heraus entwickelt hat.
Diese Menschen kommen dann zu der Erkenntnis, dass man nicht zu einer Religionsgemeinschaft gehören muss, um ein spirituelles Leben zu führen, sie allerdings auch nicht verlassen muss, wenn man die Verantwortung für sein Leben selbst übernimmt und seinem Gewissen, seiner inneren Stimme folgt.

Im Folgenden möchte ich aufzuzeigen, wie ich die Unterschiede zwischen Religion und Spiritualität einordne. Die Beschreibung dieser Unterschiede hat nicht den Anspruch auf Vollständigkeit und man muss auch nicht allen zustimmen. Es geht in erster Linie um Gedankenanstöße, die helfen sollen, sein eigenes Verständnis von Religion und Spiritualität zu überdenken.

Religion

Im ursprünglichen Sinne kommt Religion aus dem Lateinischen Wort: religio, wörtlich „Rückbindung“. Auch zurückgeführt auf religere, „zurückbinden“; frei übersetzt: „wieder verbinden [mit Gott]“). Diese Definition steht grundsätzlich nicht im Gegensatz zur Spiritualität.
Man verbindet Religion aber überwiegend mit der Religionsgemeinschaft einer Kirche, die ihrer Religion einen Namen gibt. Man nennt sie Weltreligionen. Das sind Christentum, Judentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus, wobei Buddhismus sich in seiner Essenz von den anderen genannten Weltreligionen unterscheidet, weil es hier keinen Glauben an einen Gott gibt.

Diese Religionen

  • beziehen sich auf einen Gründer.
  • erwarten einen Glauben an einen persönlichen Gott, der dem Menschen gegenübersteht.
  • sind in sich geschlossene Gemeinschaften (Christen – Buddhisten–Muslime – Hindus etc.) mit Tradition und einer damit verbundenen starken Identifikation, was zur Abgrenzung von anderen bedeutet.
  • haben vorgegebene Glaubenssätze, Gebote und Verbote.
  • erwarten den Glauben an etwas, was nach dem Tod geschieht, Himmel/Hölle –Wiedergeburt. Erwartung einer Belohnung oder Bestrafung nach dem irdischen Leben (jüngstes Gericht) und ähnliches.
  • haben Führer (Papst, Bischöfe, Lamas, Patriarchen u.a.) sowie Priester, Mönche, Nonnen. Häufig sind damit Weihen und/oder Gelübde verbunden.
  • haben (heilige) Schriften als Grundlagen wie Bibel und Koran.
  • haben überwiegend eine autoritäre Hierarchie männlicher Prägung.

Vorteile:

  • Ethische Grundlagen (Liebe – Mitgefühl – soziales Empfinden)
  • (wie Kirchen, Tempel, Moscheen)
  • Rituale und Gottesdienste
  • Gemeinde (Zugehörigkeit zu etwas)
  • Soziale Einrichtungen
  • Gemeinsame Aktivitäten
  • Hymnen, Psalmen, Sutren u.a.
  • Verbundenheit mit anderen in der gleichen Gemeinschaft
  • (Vermeintliche) Sicherheit

Nachteile:

  • Erwachsene werden häufig wie unmündige Kinder behandelt.
  • Keine wirkliche Gewissensfreiheit
  • Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen wird nicht unterstützt.
  • Missbrauch von Macht durch Schaffen von Ängsten, Zwänge und Schuldgefühlen.
  • Negative Beeinflussung des Selbstwertgefühls. Der Mensch ist grundsätzlich Sünder und lädt Schuld auf sich. („Herr ich bin nicht würdig“, Bekenntnisse „durch meine Schuld…..“).
  • Religionen grenzen ab: ‚Ich bin dies und du bist das.‘
    Häufige Folge: Fundamentalismus, Fanatismus, Religionskriege „heilige Kriege“. – Wir haben die Wahrheit – Unterscheidung zwischen Gläubigen und Ungläubigen, Christen und Heiden – Ziehen von Grenzen: ‚Ich gehöre dazu, du nicht.‘
  • Häufiges Handeln im Widerspruch zu dem, was sie fordern. Sie predigen Liebe und handeln häufig lieblos.
  • Was nahezu alle gemeinsam haben: Frauen sind minderwertiger als Männer und werden nicht zu hohen Ämtern zugelassen.

Diese Charakteristiken treffen überwiegend auf die westlichen Weltreligionen zu.

Spiritualität

  • basiert auf einem Urtrieb im Menschen nach Einheit, Verbundenheit, Ganzheit, Geborgenheit, Liebe.
  • verlangt dadurch im Kern die Überschreitung eines sich abgrenzenden und abgespaltenen „Egos“, um Verbundenheit mit Allem erfahren zu können.
  • strebt an, statt an etwas glauben (zu müssen), ein „inneres Wissen“ aus eigenen Erfahrungen zu erlangen, das zu mehr Vertrauen zu etwas führt , das tief im Menschen als „innere Stimme“ und als eine Art „innerer Führung“ vernommen werden kann.
  • überschreitet den personalen/rationalen Bewusstseinsraum (Verstand u. Denken) durch Einbeziehung eines transpersonalen / transrationalen Bewusstseinsraum, aus dem Intuition, Inspiration und Kreativität erfahren wird, durch die eine ganzheitliche Lebensweise möglich wird.

Vorteile

  • Übernehmen von Selbst-Verantwortung für Glück und Zufriedenheit im Leben.
  • Überschreitung von Konfessionalität, da es keine Abhängigkeit von religiösen Instituten/Führern etc. gibt.
  • Mystische/Transpersonale Erfahrungen bewirken ein „inneres Wissen“.
  • Mehr SELBST-Vertrauen resultiert in weniger Ängsten vor der Zukunft, dem Tod und dem, was danach kommen könnte.
  • Keine Abgrenzungen zu anderen Gemeinschaften aus der Wahrnehmung von Einheit und Verbundenheit
  • Eigene Bedürfnisse und die Bedürfnisse anderer Menschen haben den gleichen Stellenwert
  • Handeln aus einer tief empfundenen Verbundenheit mit anderen Menschen, der Natur und Kreatur

Nachteile

  • Verantwortung übernehmen müssen – man kann sich nicht mehr auf andere berufen.
  • Mit sich selbst, seinem SELBST, in Kontakt sein zu müssen, was voraussetzt, sich Zeiten von Ruhe im meist hektischen Alltag einzurichten, zum Beispiel durch regelmäßige Meditation.
  • Sich mit Fragen auseinandersetzen zu müssen, wie „Wer bin ich“, „Wozu bin ich hier?“, um sich von falschen Selbstbildern befreien zu können.
  • Spiritualität ist eng mit der Mystik verbunden, die es in allen Religionen gibt. Sie hatte und hat aber in den institutionellen Kirchen keinen hohen Stellenwert. Stattdessen dominiert die mehr auf Verstand und Denken basierende Theologie.

Spirituelles Leben

Spirituelles Leben setzt folglich einen erwachsenen Menschen voraus der,

  • die Verantwortung für sein Leben und Handeln aus einer Grundhaltung von Liebe zu sich selbst und zu anderen übernimmt.
  • sich Raum und Zeit für Ruhe und innerer Stille nimmt, in der er Kraft, Vertrauen und Klarheit für den Alltag schöpfen kann.
  • weiß, wer oder was er in seiner Essenz wirklich ist.
  • frei ist von jeder Art von Fremdbestimmung.
  • Vertrauen ins Leben hat, weil er in gutem Kontakt mit seiner inneren Stimme, seiner inneren Führung ist.

Spirituelles Leben kann man auch kurz auf die Aufforderung von Augustinus Aurelius ausdrücken: „Liebe und tue, was Du willst!“
Diese Grundhaltung schafft ein Gewissen, das nicht von äußeren Normen, Geboten und Verboten u.a. gebildet wird, sondern aus dieser tiefen Verbundenheit mit Allem existiert.
Ist es möglich, dass man Menschen, die aus einer spirituellen Grundhaltung leben, an bestimmten Verhaltensweisen zu erkennen? Die Antwort darauf birgt die Gefahr in sich, dass man sich dann bemüht, diese Verhaltensweisen anzustreben mit der Absicht, so wirken zu wollen. Und schon ist das Ego wieder im Spiel, das sich profilieren möchte, besser sein möchte als andere.

Ich wage es trotzdem, bestimmte Merkmale bei einer spirituellen Lebensweise aufzuzeigen.

Diese Menschen

  • strahlen überwiegend Ruhe, Gelassenheit und innere Heiterkeit aus.
  • sind präsent und können gut zuhören.
  • haben weniger Ängste und Sorgen.
  • sind weniger verletzbar.
  • wollen nicht rechthaben, sondern in erster Linie andere verstehen und verstanden werden.
  • bewerten weniger und nehmen sich selbst und andere an, wie sie sind.
  • sind meistens weniger krank, weil sie durch ihre Lebensweise und einem ausgeglichenen Energiehaushalt auch ihr Immunsystem stärken.

Diese Grundhaltung kann man nicht mental lernen. Sie ist das Ergebnis, aus diesem Geiste der Spiritualität, wie zuvor beschrieben, zu leben.

Zusammenfassung zum Thema Spiritualität und Religion

Man könnte den Wandel von bisher verstandener Religiosität zu einer neu gelebten Spiritualität auch so formulieren, wie es Willigis Jäger getan hat:

Das alte Paradigma sagt:
„Ich bin ein Mensch, der eine spirituelle Erfahrung macht.“

Das neue Paradigma sagt:
„Ich bin ein spirituelles Wesen, das eine menschliche Erfahrung macht.“


—Autor: Hans Piron—


Weiterführende Website:

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