„Wegweiser zum Erwachen“ – Roger Walsh
Dieser Beitrag setzt die Vorstellung des Buches „Die Erfahrung gelebter Spiritualität“ von Roger Walsh fort.
Einleitung zum Thema Weisheit
Weisheit hat in unserer westlichen Welt keinen besonders hohen Stellenwert. Wenn man dieses Wort gebraucht, dann ist es meistens mit dem Alter verbunden, was aber nicht bedeutet, dass sich daraus das Ziel ergibt, sich zu einem weisen Menschen zu entwickeln. Häufig wird auch Klugheit mit Weisheit gleichgesetzt.
In der asiatischen Kultur, insbesondere in Indien, werden alte Menschen besonders wegen ihrer Weisheit geschätzt. Da ist selbstverständlich mit dem Älterwerden auch das Wachsen von Weisheit verbunden. In unserer westlichen Kultur hingegen liegt der Schwerpunkt im Leben auf Leistungen, auf Handeln und Tun. Dadurch fühlen sich ältere Menschen, weil sie nicht mehr viel tun und leisten können, nutzlos und wertlos. Das Tragische ist, dass der Erfolg in der äußeren Welt keinerlei Weisheit bedarf, sie sogar hinderlich sein kann. Da sind Werte wie Cleverness verbunden mit Intelligenz, Wissen und erlernten Fähigkeiten erfolgversprechender. So schreibt auch Roger Walsh: „Wir haben eine große Menge an Wissen angehäuft, aber haben wir auch Weisheit?“
Ich habe noch nie zuvor eine so klare und überzeugende Erklärung zu diesem Thema Weisheit gefunden. Dabei geht es nicht nur um Erklärungen, was Weisheit ist und was sie nicht ist, sondern auch wie sie erweckt und entwickelt werden kann.Was hier nicht ausdrücklich betont wird, ist die Tatsache, dass nur wirklich erwachsene Menschen Weisheit erlangen können. Wer noch in seinen Abhängigkeiten, resultierend aus Defiziten aus der Kindheit, verstrickt ist, wird es schwer haben, Weisheit in seinem Leben zu entwickeln.
Zum Autor Roger Walsh (MD, Ph.D.)
ist Professor für Psychiatrie, Philosophie und Anthropologie an der Universität von Kalifornien. Er ist bekannt für seine Arbeit auf dem Gebiet veränderter Bewusstseinszustände bei spirituellen Erfahrungen und gilt als Experte der transpersonalen Psychologie und den Auswirkungen von Meditation auf die physische und psychologische Gesundheit des Menschen .
„Die Erfahrung gelebter Spiritualität“ Buch von Roger Walsh
Schwerpunkte hier sind ausgewählte Texte aus dem Kapitel „Pflege der spirituellen Intelligenz: Weisheit und Verständnis des Lebens entwickeln.“
Was ist Weisheit?
Wissen erwirbt man durch das Studium des Anderen,
Weisheit durch die Erkenntnis seiner selbst.
Laotse
Unsere Welt ist überflutet von Informationen, und wir ertrinken in Daten. Jeder Tag bringt neue Entdeckungen, und eine einzige Zeitung teilt uns mehr über die Welt mit, als man vor Jahrhunderten in einem ganzen Leben erfahren hat. Dennoch fehlt uns etwas. Wir haben eine große Menge an Wissen angehäuft, aber haben wir auch Weisheit? Man braucht nur einen Blick auf das Ausmaß des Leidens und des Wahnsinns in der Welt zu werfen, um sich der traurigen Tatsache bewusst zu werden, dass ein schrecklich großer Mangel an Weisheit herrscht.
Dieser Mangel ist umso gravierender, als Weisheit nicht nur für ein gesundes Leben und eine gesunde Gesellschaft, sondern auch für das Erwachen von entscheidender Bedeutung ist. Im Hinduismus ist das Streben nach Weisheit einer der wichtigsten spirituellen Wege des Yoga, und im Buddhismus wird Weisheit manchmal als die vorzüglichste Fähigkeit des Geistes bezeichnet. – Was ist Weisheit, und wie können wir sie fördern?
Was Weisheit nicht ist
Weisheit ist nicht einfach Intelligenz oder Wissen, noch ist sie mit außergewöhnlichen Erfahrungen oder persönlicher Macht gleichzusetzen. Diese können wertvoll sein, sind jedoch etwas anderes als Weisheit
Intelligenz
ist die Fähigkeit zu lernen, zu verstehen und klar und logisch zu denken. Weisheit ist jedoch viel mehr als einfache Intelligenz, denn sie ergibt sich erst aus der Anwendung von Intelligenz zum besseren Verständnis unserer zentralen Fragen im Leben.
Wissen
In ähnlicher Weise ist Weisheit mehr als Wissen. Der Taoismus bringt es klar zum Ausdruck: »Der Gelehrte ist nicht weise.« Während Wissen einfach Informationen sammelt, bedarf es der Weisheit, um diese zu verstehen. Das Wissen betrachtet die Dinge objektiv; Weisheit unterwirft sie einer subjektiven Prüfung, um zu erkennen, was sie für das Leben bedeuten und wie man ein gutes Leben führen kann. Wissen informiert, Weisheit transformiert. Wissen ist etwas, das wir besitzen; Weisheit etwas, das wir werden müssen. Wissen drücken wir mit Worten, Weisheit mit unserem Leben aus…..
Der Buddhismus erklärt: Ein Augenblick der Erkenntnis der Göttlichen Weisheit, geboren aus Meditation, ist kostbarer=als jede Menge von Wissen.
Außergewöhnliche Erfahrungen
Desgleichen sind auch dramatische, sogar gewaltige spirituelle Erfahrungen kein Beweis von Weisheit. Jeder, der langfristig eine intensive spirituelle Praxis ausübt, wird früher oder später bemerkenswerte Erfahrungen machen. Außergewöhnliche Erfahrungen sind nicht unbedingt ein Beweis von Weisheit, noch führen sie alle not-wendig zur Weisheit. Entscheidend ist, wie wir uns zu ihnen verhalten und was wir aus unseren Erfahrungen lernen. Dies ist eines der wichtigsten Geheimnisse der spirituellen Praxis.
Was Weisheit ist
Weisheit ist ein tiefes Verstehen und die Fähigkeit, mit den zentralen Fragen des Daseins, insbesondere der existentiellen und spirituellen, praktisch umzugehen.
Existentielle Fragen betreffen die wesentlichen universellen Probleme, die uns alle angehen, weil wir Menschen sind. Dazu gehören die Suche nach dem Sinn und Zweck unseres Lebens, der Umgang mit Beziehungen und Einsamkeit, die Anerkennung unserer Grenzen und unserer Kleinheit in einem unermesslich großen Universum, das Leben in seiner unvermeidlichen Ungewissheit und Rätselhaftigkeit und nicht zuletzt der Umgang mit Krankheit, Leiden und Tod. Ein Mensch, der tiefe Einsichten in diese Fragen gewonnen hat, ist in der Tat weise.
Vision und Verständnis
Indem man mit Weisheit den Dingen auf den Grund geht, ist man in der Lage, wichtige Prinzipien und ihre Bedeutung für ein gutes Leben herauszufinden. Auf einer einfachen Stufe erkennt man das Verhältnis von Ursache und Wirkung, etwa: ‚Diese Verhaltensweise führt zu Leiden, jene Denkweise fördert das Glück.‘ Auf einer höheren Stufe kann man durch Weisheit eine ganze Psychologie und Philosophie entwickeln, mit deren Hilfe die visionären Erkenntnisse der Weisheit und ihre praktische Anwendung genau formuliert und dargelegt werden können.
=Durch den visionären Aspekt der Weisheit erkennt und erforscht man drei Dinge des Lebens: Das Leben, den Geist und das Wesen der Wirklichkeit.
Leben
Durch Weisheit geht man dem Wesen des Lebens auf den Grund, insbesondere den Ursachen des Glücks, sowie den Ursachen des Leidens und den Heilmitteln dafür. Man erkennt, dass es eine ungeheure Menge unnötigen Leidens in der Welt gibt, zum Großteil durch Menschen verursacht, die von destruktiven Kräften wie Gier oder Hass verblendet sind. Durch Weisheit erkennt man, dass bestimmte – etwa unethische oder gierige – Handlungen zu kurzfristigem Lustgewinn und viel längerfristigem Schmerz führen, während andere -ethisches und großmütiges Verhalten- zu dauerhaftem Wohlbefinden führen. Die Menschen verkennen dies oft und leben auf eine Weise, die die Möglichkeit, glücklich zu sein, verhindert.
Durch visionäre Weisheit erkennt man, dass die konventionelle Art zu leben leidvoll ist. Praktische Weisheit beginnt, wenn ein Mensch begreift, dass es eine bessere Art zu leben geben muss, und den festen Vorsatz fasst, diese zu finden. So begibt er sich auf die Suche nach dem Erwachen.
Geist/Bewusstsein
Durch Weisheit erkennt man die unerhörte Macht des Geistes, unsere Erfahrungen hervorzurufen und sie gleichzeitig zu trüben, Ekstase sowie Leiden zu verursachen, zu lernen oder zu stagnieren. Wenn Sie einmal die umfassende Macht des Geistes begriffen haben, wird es ein lebenswichtiges Ziel für Sie werden, zu lernen, wie Ihr Geist funktioniert und wie man ihn schulen kann.
Durch Weisheit erkennt man, dass der ungeschulte Geist wild und unkontrolliert ist. Man erkennt aber auch, dass er geschult, gezähmt, transformiert und transzendiert werden kann, und dass dies das wesentliche Mittel ist, um Glück, Liebe, Nächstenliebe und innere Befreiung zu fördern. Die Schulung des Geistes kann zu einer dringlichen Priorität werden und fördert umgekehrt das Wachstum von Weisheit.
Das Wesen der Wirklichkeit
Indem weise Menschen in die Tiefe ihrer eigenen Erfahrung vordringen, gewinnen sie einen Einblick in das Wesen der Wirklichkeit. Das ist kein bloßes theoretisches Wissen, sondern eine unmittelbare, persönliche Erkenntnis, die sich aus ihrer gründlichen Erforschung des Lebens, der Welt und des Geistes ergibt. Damit erschließen sich ihnen Aspekte der immerwährenden Philosophie.
Weise lernen viele Dinge, die den Durchschnittsmenschen verborgen bleiben, aber sie erfahren auch, dass es eine Grenze des Lernens gibt. Wissen ist immer bruchstückhaft, der Intellekt begrenzt, und unsere Vernunft in einem unendlichen Universum unergründlicher Rätselhaftigkeit ist endlich. Diese Grenzen zu erkennen und anzunehmen, sind Aspekte der Weisheit und, wie wir sehen werden, das entscheidende Mittel, diese zu entwickeln.
Praktische oder angewandte Weisheit
Praktische Weisheit ist Lebenskompetenz, insbesondere im Umgang mit den existentiellen Problemen des Lebens. Sie ist eine Lebensweise, welche die visionären Aspekte der Weisheit und ihr Verständnis zum Ausdruck bringt.
Umfassende Vision und tiefes Verständnis führen zu einer Wertschätzung »natürlicher Gesetze«, sowie einer »natürlichen Ethik« und einer »natürlichen Lebensweise«. Daraus ergeben sich ein Rechtssystem, eine Ethik und eine Lebensweise, die in der grundlegenden Natur der Wirklichkeit wurzeln, mit ihr im Einklang stehen und uns zu ihr erwecken.
Menschen in allen Entwicklungsstufen können danach streben, ethisch zu handeln und gütig zu sein, aber vielleicht vermag nur eine mystische Erfahrung und die daraus resultierende Weisheit auf die fundamentale Frage: „Wozu soll man moralisch sein?“ eine eindeutige Antwort zu geben. Ohne die direkte Erkenntnis unseres Einsseins mit allen Menschen und dem ganzen Leben können wir ein moralisches Leben nur mit unserem Denken rechtfertigen, indem wir Konzepte von Gerechtigkeit und die Standpunkte verschiedener Menschen berücksichtigen. Solche Vernunftgründe sind offensichtlich wertvoll, haben jedoch ihre Grenzen. Ein Pionier der Forschung über moralische Entwicklung, Lawrence Kohlberg, kam zu dem Schluss:
‚Nicht einmal die denkbar vernünftigsten Argumente für Gerechtigkeit können eine adäquate Antwort auf die Frage geben: »Wozu soll man moralisch handeln?‘ … Die einzige ethisch- ontologische Orientierung, die auf letzte ethische Fragen, wie »Warum soll man moralisch handeln?« oder »Warum soll man in einer offensichtlich ungerechten Welt gerecht sein?«, eine befriedigende Antwort geben kann, ist eine kosmische Perspektive … Diese Orientierung scheint sich außerdem auf eine Art transzendenter oder mystischer Erfahrung auf einer Ebene zu stützen, auf der das Selbst und das Universum eins sind.
Mystische Erfahrung ist die Grundlage einer reifen Weisheit, die wiederum eine reife, transpersonale Ethik, Motivation, Emotion und Bereitschaft zu dienen fördert. Daher führt Weisheit uns zu einem harmonischen und mitfühlenden Zuammenleben mit anderen. Dieser uralte Anspruch wurde in jüngster Zeit von Forschern bestätigt, die zu dem Schluss kamen, dass die Weisen, die sie studierten, »persönliche Anliegen transzendierten und sich kollektiven oder universellen Fragen zuwandten.« Der Buddhismus nennt dies die Vereinigung von Weisheit und Mitgefühl, denn Weisheit findet ihren natürlichen Ausdruck im Dienst an anderen.
Erwecken von Weisheit
Die Weisheit ist strahlend und unvergänglich
und lässt sich gern erkennen von denen,
die sie liebhaben, und lässt sich von denen finden,
die sie suchen. …
Denn über sie nachdenken,
das ist vollkommene Klugheit …
Denn da ist Anfang der Weisheit, wo einer aufrichtig
nach Unterweisung verlangt…
Viele Weise aber sind Heil für die Welt.
Weisheit Salomons
Wohin sollen wir uns wenden, um weise zu werden?= Nicht an die Universitäten, wo nur das Wissen vorherrscht. Nicht an unsere politischen Führer, die so oft die Macht anbeten und unseren Planeten gefährden. Wenden wir uns stattdessen an das spirituelle Herz der großen religiösen Überlieferungen, die die gesammelte Weisheit von Jahrtausenden und von unzähligen Heiligen in sich bergen. Dort liegt der Schlüssel zur Weisheit.
Die Weisheit der Unwissenheit
Der Narr, der sich für weise hält, ist wahrlich ein Narr.
Der Buddha
Weisheit entspringt einem Paradox. Wenn wir weise werden wollen, müssen wir zuerst begreifen, dass wir es nicht sind. Wir sind nur dann motiviert zu lernen, wenn wir wissen, dass wir unwissend sind…..
Die Einsicht, dass wir unwissend sind, ist mehr als ein Einblick in unser Selbst. Sie ist zugleich eine unschätzbare Einsicht in die Wirklichkeit. Das Universum ist so unermesslich groß, das Leben so unvorstellbar tiefgründig und unser Geist im Verhältnis dazu so begrenzt, dass unser Leben und das Universum ein großes, wunderbares Mysterium ist. Huston Smith fasste unsere Situation zusammen:
»Unsere Geburt ist ein Mysterium, unser Leben ist ein Mysterium und unser Tod ist ein Mysterium. «
Wenn wir unsere Unwissenheit angesichts dieses ungeheuren Mysteriums anerkennen, entspricht dies genau unserer menschlichen Kondition.
Die Anerkennung unserer Unwissenheit kann eine große Wohltat sein. Sie reinigt unser Herz von Stolz und Voreingenommenheit und öffnet unseren Geist für neue Möglichkeiten: ein reines, leeres Gefäß zu sein, in das Weisheit strömen kann. An die Stelle der Furcht, unwissend zu sein, treten die Ehrfurcht und das Entzücken über das niemals endende Wunder des Lebens.
„Ein Kurs in Wundern“ empfiehlt uns das folgende Mittel, um alte Konzepte loszulassen und uns dem Heiligen zu öffnen. Man liest diese Zeilen am besten langsam und still für sich, so dass die Worte ihre heilende Wirkung entfalten können.
Lass uns einen Augenblick still sein und alles vergessen, was wir je gelernt haben, alles, was wir gedacht haben, und jede vorgefasste Meinung, was die Dinge bedeuten und welchen Zweck sie haben.
Denken wir nicht an unsere eigenen Vorstellungen, wozu die Welt da ist. Wir wissen es nicht…
Tu einfach dies: Sei still und lass alle Gedanken beiseite, was du seist und was Gott sei; alle Begriffe, die du dir über die Welt angeeignet hast; alle Bilder, die du dir von dir selbst gemacht hast …
Nimm nicht einen einzigen Gedanken mit, den die Vergangenheit dich gelehrt hat, noch einen Glauben, den du von irgendetwas gelernt hast.
Vergiss diese Welt, vergiss diesen Kurs, und tritt mit gänzlich leeren Händen vor Gott.
Quellen der Weisheit
Wo finden wir Weisheit? Letzten Endes überall: in jedem Menschen, in jeder Situation und Erfahrung, der wir mit einem wachen, aufgeschlossenen Geist begegnen. Doch obgleich es möglich ist, von allen Menschen und allen Dingen zu lernen, empfehlen die religiösen Überlieferungen uns namentlich folgende Quellen der Weisheit:
- die Natur
- Stille und Alleinsein
- die Weisen
- Erkenne dich selbst
Ende der Textauszüge
Roger Walsh beschreibt diese Quellen noch in weiteren Kapiteln.
Es folgen dann noch Übungen, um Weisheit zu entwickeln.
Roger Walsh beschreibt diese Quellen noch in weiteren Kapiteln.
Es folgen dann noch Übungen, um Weisheit zu entwickeln.
Die Erfahrung gelebter Spiritualität: Sieben Wegweiser zum Erwachen
- von Roger Walsh und Susanne Schaup.
- Theseus Verlag Stuttgart
- Gebundene Ausgabe – April 2008
- ISBN 978-3-7831-9515-6
Weiter Informationen zu Roger Walsh, gelebter Spiritualität und der „immerwährenden Philosophie“:
http://en.wikipedia.org/wiki/Roger_Walsh
Philosophia perennis (lat. immerwährende Philosophie)