Orientierung finden – Steindl-Rast

David Steindl-Rast (*1926)
verbindet die mystischen Traditionen des Christentums mit seinen persönlichen Erfahrungen mit dem Zen-Buddhismus. In den 70er Jahren gründete er gemeinsam mit Rabbinern, Buddhisten, Hinduisten und Sufis das „Centre for Spiritual Studies“, um den interreligiösen Dialog zu fördern. Heute lebt er im Europakloster Gut Aich in Österreich.

Einführung

(Alle Zitate und Auszüge sind in kursiver Schrift aufgeführt, meine Kommentare dazu in normaler Schrift.)

„Das Vermächtnis eines weltberühmten spirituellen Lehrers. Die Orientierungspunkte dieses Bandes vermitteln Orientierungsschritte und Haltungen, die den Reichtum des Lebens täglich neu erfahrbar machen.“
„Im Alter von 95 Jahren fragt David Steindl Rast nach zentralen Orientierungspunkten, die sein Leben geprägt haben.“ (Texte von der Rückseite des Buches).
Steindl Rast hat dieses Buch „jungen Menschen gewidmet und allen, die jung bleiben und sich immer wieder mit offenen Herzenden weitesten Horizonten zuzuwenden.“

Die Orientierungspunkte, wie der Autor sie nennt, sind wertvolle Wegweiser zu dem, was Menschsein und das Leben auf dieser Welt bedeutet. Wenn sie jedem Menschen zu Beginn seines Lebens als Erwachsener vermittelt werden würden, könnte eine andere Menschheit existieren, eine, die mit anderen Werten und Zielen jungen Menschen auf dem Weg zu einem reifen Erwachsenen begleiten könnte. Bei einer Frucht ist es selbstverständlich, dass sie sich bei einem wachstumsfreundlichen Umwelt zu einer reifen Frucht entwickelt.

Im Rahmen dieser Buchvorstellung konzentriere ich mich auf die Kapitel, denen ich eine besondere Bedeutung zuordne.

DAS ICH – MEIN DASEIN ALS GESCHENK

Der Autor empfiehlt das Ich, das er als Ausdruck seiner Existenz betrachtet, die man nicht leugnen kann, in der 3. Person Einzahl zu erklären:

„Es gibt mich! Die Betonung dieser Formulierung liegt nicht auf dem Ich, sondern auf dem Es, dass mich mir selber und der Welt gibt – schenkt. Mit diesem Satz ‚Es gibt mich‘ stelle ich diesen Sachverhalt fest, als ob ich ein außenstehender Betrachter wäre. Das vermindert, mich zum Mittelpunkt zu machen, „Außer mir gibt es noch unzählig viel anderes. Und am Gegebensein erkenne ich mein Dasein als Geschenk, als Geschenk des Universums. Ich sehe mich eingebettet in ein Geben und Nehmen, und meine Umwelt wird dadurch zur Mitwelt – zu einem Netzwerk von Beziehungen, das alles mit allem verbindet. Diese Art, mich selbst zu verstehen, ermöglicht die gesunde Entwicklung eines ‚Ich-Selbst‘ „.

Wenn man sich mit diesem Ich identifiziert, meint dieses Ich zu sein, dann ist es schwer, diese Beschreibung zu verstehen. Die Formulierung in der dritten Person macht das Ich zu einem Es, einem Objekt,das man hat. Das nächste Kapitel wird helfen, das besser zu verstehen.

DAS SELBST – MEIN UREIGENSTES WESEN

„Wenn ich von meinem Selbst spreche, meine ich mein ureigenstes Leben. Ich bin mir bewusst, dass ich „in mich gehen“ kann, in einen inneren Bereich, der nur mir selbst zugänglich ist. Nur ich kann man Bewusstsein erfahren. Die anderen erfahren nur meine außen sichtbare Gegenwart als Körper unter anderen Körpern. Aber normalerweise sagen wir nicht ‚ich bin ein Körper, sondern ‚ich habe einen Körper'“. Das ist jedoch seltsam, wenn wir es bedenken. Da sitzt ein Körper und sagt: ‚Ich habe einen Körper‘. Wer spricht denn da? Es ist mein verkörpertes Selbst, das spricht – als eins mit meinem Körper. Und zugleich spricht es über meinen Körper als eine sichtbare Entscheidung. Innen und außen können nicht getrennt,sondern nur unterschieden werden. Wenn ich also ‚Ich selbst‘ sage, dann meine ich eine Einheit, mein verkörpertes Selbst.

Wie aber kann ich mein Ich klar von meinem Selbst unterscheiden, kann ich den Unterschied zwischen Selbst und ich erleben? Das lässt sich an einem Experiment erproben. Unser reflektiertes Bewusstsein ermöglicht es uns, uns selbst zu beobachten. Beobachte dich also, wie du diese Zeilen liest. Damit uns das gelingt, müssen wir uns von dem, was wir beobachten, ‚distanzieren‘. Schau noch einmal genau hin mit deinem inneren Auge. Siehst du dich irgendwie gleichzeitig selbst als beobachtet und als Beobachter? Dann musst du dich noch ausschließlich auf das Beobachtete konzentrieren. Früher oder später wird es dich gelingen, nur mehr das Beobachtete zu beachten, weil du dich vollständig mit dem Beobachter identifizierst. Wenn dir das gelingt, hast du das Ziel erreicht. Der Beobachter, den niemand mehr beobachtet, ist das Selbst.

Wo ist dieses Selbst? Nirgends und überall… Daraus entspringt die überraschende Einsicht, dass es nur ein einziges Selbst gibt: eins für alle – ein grenzenloses, unteilbares Ganzes. Trotzdem ist unser Ich einzigartig und verschieden von jedem anderen Ich. – Das Selbst ist nicht nur über den Raum erhaben, sondern auch über die Zeit und ist in diesem Sinne überzeitlich.“

Wenn das alles jetzt sofort verstanden werden könnte, wäre das großartig. Weil ich annehme, dass dies nicht unbedingt der Fall ist, möchte ich diese Erklärungen zusätzlich noch mit den Definitionen von Roberto Assagioli in seinem Orientierungsmodell der Psychosynthese erklären.

Das Selbst, dass wir in unserer Essenz sind, ist transpersonal, geht also über unsere Existenz als Mensch hinaus. Er nennt es daher Transpersonales Selbst. Es ist das „grenzenlose, unteilbare Ganze, grenzenlos und überzeitlich“. wie Steindl Rast das Selbst beschreibt. Dieses Selbst ist inkarniert in einem Körper-Selbst, welches er auch Ich nennt. Assagioli nennt es das Personale Selbst oder auch das Ich. Dieses Personale Selbst oder auch Ich ist in der Psychosynthese definiert als ein Zentrum von Gewahrsein.

„Verschiedene Traditionen geben dem Selbst unter diesem Aspekt unterschiedliche Namen, für Hindus ‚Atman‘, für Buddhisten‚ ‚Buddha – Natur‘, Christen nennen es ‚Christus in uns‘ (oder auch ‚Christus-Bewusstsein‘).“
„Dieses Selbst immer klarer durchscheinen zu lassen durch unser Ich, stellt die große Aufgabe dar, ‚zu werden, wer wir wirklich sind. Das ist die Aufgabe, ‚Unsere Rolle im Leben gut zu spielen‘, wie man sagt.“

Was heißt das aber? Unsere Rolle im Leben ist kein festes Drehbuch, und sie zu spielen, bedeutet zu improvisieren – wie Schauspieler bei Improvisationsaufführungen oder wie Jazzmusiker. Jazz entfaltet und verändert sich ständig auf unvorhersehbare Weise, weil die Spieler hinhorchen und jeder von allen anderen beeinflusst wird.

Wie kann ich aber erkennen, dass ich meine Rolle gut spiele? Was heißt hier gut? Die Antwort ergibt sich aus dem, was wir über das Selbst gesagt haben: Sie lautet Du musst als ‚Du selbst‘ spielen. Wie gut wir ‚unsere Rolle spielen‘ hängt nicht von unserer Veranlagung ab, sondern davon, dass unser Ich immer transparenter wird für das Selbst. Das bedeutet auch, dass wir uns dessen bewusst bleiben, dass wir – die Spieler – alle ein Selbst sind. Und dass wir unsere gegenseitige Zugehörigkeit durch unsere Art zu spielen bekräftigen. Dann wird unser Spielen – alles was wir tun – ein „gelebtes Ja zur Zugehörigkeit“. Das aber ist genau unsere Definition von Liebe. – ‚Unsere Rolle gut zu spielen‘ heißt also , durch alles, was wir im Leben tun, Liebe auszudrücken.“

„Es gibt nur ein Selbst. In dem Ausmaß, in dem wir diese Tatsache aus dem Bewusstsein verlieren, ist uns auch nicht mehr bewusst, dass letztlich das Selbst alle Rollen spielt. Wenn ich das vergesse, werde ich wie ein Schauspieler, der sich so in seine Rolle verliert, dass er sich am Ende nicht mehr von der Rolle unterscheiden kann. Wenn das geschieht, hat mein Ich mein Selbst vergessen. Wir nennen das Ich, dass seine Beziehung zum Selbst verloren hat, das Ego.““

So einfach kann man beschreiben, was bzw. wer wir als Mensch auf dieser Erde sind und welche Aufgabe wir im Leben haben. Noch niemals zuvor habe ich die Definition des Egos in so prägnanter und klarer Weise formuliert gesehen. Das Erschreckende bei dieser Definition ist, dass es nur wenige Menschen gibt, die aus einer Beziehung zu ihrem Selbst, ich nenne das Selbst auch gerne Seele, leben. Sie leben so im Ego-Bewusstsein, das sich in seiner Essenz ohne einen Bezug zur Ganzheit, zur Natur, erfährt. Es erfährt sich im Körper-Ich als ein von der Natur, von Gott, getrennten Wesen. Steindl-Rast widmet der Beschreibung dieses Egos, das das Selbst vergessen hat, ein ganzes Kapitel. Ich zitiere die Zusammenfassung:

„Das Ego ist nichts anderes als Ich, aber ein krankes Ich, zusammengeschrumpft, weil es sein weites, allumfassendes Selbst aus dem Bewusstsein verloren hat. Daher hat es auch seine Verbundenheit mit allen andren vergessen und alle echten Beziehungen verloren. Nur durch Beziehungen aber finden wir Sinn und Orientierung im Leben. Und alle Beziehungen beginne mit der Beziehung zum Du.“

Wie ist es aber, wenn sich zwei Menschen sich begegnen, die sich in ihrem Bewusstsein als Selbst begegnen? Steindl Rast hat dies so ausgedrückt:

„Im Laufe meines Lebens wurde mir mehrmals die Freude zuteil, Menschen kennen zu lernen, deren Ich das Selbst mit großer Klarheit durchscheinen ließ. In ihrer Gegenwart fiel es mir leichter, ‚ich selbst‘ zu sein. Sie machten mir bewusst, dass ich ein einziger Ausdruck des einen großen Selbst bin.“

Das Selbst scheint durch, wenn man jemandem begegnet, der ganz präsent ist, man schaut sich an und in diesem Augenblick existiert nur noch die Gegenwart, keine Gedanken nur die gegenseitige reine Wahrnehmung beim einander anschauen. Steindl-Rast zitiert den griechischen Philosophen Aristoteles, der
“ Freundschaft als eine ‚einzige Seele verstand, die in zwei Körpern wohnt‘ – ein einziges Selbst in unserer Terminologie“.

DAS LEBEN – ORT DER BEGEGNUNG MIT DEM GEHEIMNIS

„Begegnung mit dem Geheimnis findet statt, wenn wir lernen das Leben der Natur – Einsteins ‚erhabene Struktur des Seienden zu erleben‘ , zu verstehen und zu feiern, aber auch wenn wir uns unseres Lebens wachbewusst werden…. Unser eigenes Leben ist untrennbar in das gesamte Leben der Natur eingebettet. In diesen Bereichen des Lebens begegnen wir dem einen großen Geheimnis.“

„Es gibt einen treffenden Ausdruck für das Verständnis der Lebensprozesse in der Natur und die Anwendung ihrer Prinzipien auf menschliche Gemeinschaften: Ökobewusstsein. Ökobewusst zu werden, ist heute die dringendste Aufgabe für die Menschheit. Unser Leben hängt davon ab, dass wir die Gestaltung unserer Gemeinschaften, unserer sozialen Einrichtungen und unser Technologien die Natur als Vorbild nehmen.““

„Persönliches und gesellschaftliches Leben kann nur gedeihen, wenn es sich einstimmt auf die Harmonie des Lebens in der Natur – die Alternative ist Selbstzerstörung.““

GOTT – DAS GEHEIMNISVOLLE „MEHR-UND-IMMER-MEHR“

„Alles, was ich über das Geheimnis gesagt habe, gilt auch für ‚Gott‘. Die beiden Worte sind gleichbedeutend. Das darf nicht vergessen werden.
Mit Gott bezeichnen wir das große Geheimnis, wenn wir es als Du ansprechen. Das Wort Gott weist auf die namenlose Wirklichkeit hin, die begrifflich unfassbar bleibt, zu der aber unsere menschliches Bewusstsein in seiner tiefsten persönlichen Beziehung steht – unser Ur-Du. Die Intimität dieser Beziehung – etwa bei den großen Mystikern aller Traditionen – ist eine der größten Entfaltungsmöglichkeit, die das Leben uns Menschen schenkt. Wenn wir dies vergessen, wird Gott leicht zum Namen einer höchsten Gottheit und wir gleiten vielleicht, ohne es zu bemerken, in Vorstellungen hinein, die wir eigentlich vermeiden sollten.
Gott ist das Du, dem wir in allen Personen in immer neuen Variationen begegnen. Ja, wir begegnen Gott nicht nur in Personen, sondern in allem, was es sonst noch gibt…. Und weil wir dem Geheimnis vor allem in unsrer eigenen innersten Tiefe begegnen, kann der christliche Mönch und Mystiker Thomas Merton mit Recht sagen: ‚Gott ist nicht jemand anderer‘, Hier begegnen wir dem Geheimnisvollsten: Wir sind das Geheimnis zuinnerst geeint, stehen aber gleichzeitig in Beziehung zu ihm. Unser innerstes Ich – unser Selbst – nimmt am Geheimnis teil – also an Gott, zugleich aber ist Gott unser großes Du.“

Was Steindl-Rast so deutlich macht, kann vielen Menschen helfen, die meinen, wenn ich eins mit Gott bin, was bedeutet in meiner wahren Natur zu sein, kann ich nicht mehr Gott als ein Gegenüber erfahren, zu dem ich sprechen kann. Wenn wir unsere göttliche Präsenz wahrnehmen, existiert gleichzeitig Gott als das ‚große Du‘ in uns. Wir können weiterhin zu Gott sprechen, beten, einen inneren Dialog halten, ohne uns selbst als ein von Ihm getrenntem Wesen wahrzunehmen. Das macht Steindl-Rast auch mit diesen Worten deutlich:

Die Idee, dass wir Gott mehr lieben sollen als alles andere, wie man manchmal hört, ist völlig falsch ausgedrückt. Gott ist nicht etwas Zusätzliches. Wer wahrhaft liebt, liebt Gott – wenn auch unbewusst. Je tiefer, je leidenschaftlicher diese echte Liebe, umso vollkommener ist sie zugleich Gottesliebe.

MEIN FAZIT:

Mir fiel es nicht leicht, mich in diesem Rahmen auf diese ausgewählten Kapitel und Auszüge zu beschränken. Was der Benediktiner Mönch hier im Alter von 95 Jahren zum Ausdruck bringt, sind Weisheiten, die vermitteln, was Menschsein bedeutet und was es bedeutet als Mensch aus seiner wahren Natur zu leben. Es ist ein Wegweiser für alle, die von dem Wunsch geleitet werden, am Ende ihres Seins auf dieser Welt auf ein erfülltes Leben zurückblicken zu können. Das kommt vor allem im Untertitel des Buches zum Ausdruck „Schlüsselworte für ein erfülltes Leben“.

Was ein erfülltes Leben bedeutet, hat Steindl Rast so vermittelt:
„Die große Aufgabe des Lebens ist es, ‚unsere Rollen im Leben gut zu spielen’… Um zu erkennen, dass wir die Rollen gut spielen, musst du als ‚Selbst‘ spielen.“ Das bedeutet auch, „dass wir – die Spieler – alle ein Selbst sind. – Unsere Rolle gut zu spielen heißt, durch alles, was wir im Leben tun, in Liebe ausdrücken.“

Wenn wir das im kollektiven Bewusstsein dominierende Ego-Bewusstsein in unserem Leben durch ein Bewusstsein von Verbundenheit, von Liebe, überwunden haben und aus unserem wahren Selbst leben, dann haben wir unsere Lebensaufgabe erfüllt. Dann wird das Loslassen unseres Körpers am Ende mit Dankbarkeit und Freude geschehen können.

Quelle der Zitate

David Steindl-Rast
„Orientierung finden – Schlüsselworte für ein erfülltes Leben“
Tyrolia Verlag ISBN 978-3-7022-3992-3

Mehr über: Steindl-Rast

Ergänzende Literatur zum Thema

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