„Hirnforschung und Meditation“ – Wolf Singer und Matthieu Ricard

 

Bei diesem Beitrag geht es um einen Dialog zwischen Wolf Singer, Gehirnforscher, und Matthieu Ricard, buddhistischer Mönch, der in dem Buch mit dem Titel „Hirnforschung und Meditation“ veröffentlicht wurde.

Wolf Singer
ist Direktor am Max-Plank-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main und einer der weltweit führenden Hirnforscher.

Matthieu Ricard
war Molekularbiologe am Institut Pasteur in Paris, wurde dann buddhistischer Mönch in Katmandu und Bestseller-Autor.

Für dieses Buch treten beide in einen Dialog über die Beziehung zwischen Hirnforschung und Bewusstseinstraining. Sie wagen einen Versuch, zentrale Fragen über die menschliche Natur mit neurowissenschaftlichen Erkenntnissen zu verbinden. (Text entnommen der Rückseite des Buches)

Einleitung zum Buch „Hirnforschung und Meditation“

Inwieweit kann man das eigene Bewusstsein trainieren, um Veränderungen bei sich selbst im Hinblick auf innere Einstellungen und Verhaltensweisen zu bewirken? Und hat diese Einflussnahme auch Auswirkungen auf unser Gehirn, d.h. verändert sich hier etwas?
Das sind u.a. Fragen, die im Mittelpunkt dieses Buches stehen. Bewusstseinstraining ist hier verbunden mit der Praxis von Meditation, Achtsamkeit und bewusstem Denken und Handeln.
Während Wolf Singer (WS) die Auswirkungen dieses Bewusstseinstraining auf das Gehirn aus wissenschaftlicher Sicht erläutert, stützt sich der buddhistische Mönch Matthieu Ricard (MR)auf die Ergebnisse von Untersuchungen bei Menschen mit langjähriger meditativer Erfahrungen.

Meine Absicht ist es, durch die hier ausgewählten Zitate die Auswirkungen von regelmäßiger meditativer Praxis für das persönliche Glück eines Menschen in seinem Leben deutlich zu machen. Da hierzu Matthieu Ricard wesentlich mehr beiträgt, bitte ich um Verständnis, dass seine Zitate gegenüber denen von Wolf Singer weit überwiegen.

Zitate aus „Hirnforschung und Meditation

MR: „Der Buddhismus strebt nicht im selben Maß wie die westlichen Zivilisationen nach einer Vermehrung des Wissens über die physische Welt und die belebte Natur. Dafür hat er sich 25 Jahrhunderte lang sehr intensiv mit der Erforschung des Geistes beschäftigt und auf empirischem Weg eine Vielzahl an Erkenntnissen gewonnen.“

MR: „Es genügt nicht, angestrengt darüber nachzudenken, wie der Geist funktionieren könnte, und dann komplexe Theorien aufzustellen, wie es Freud beispielsweise getan hat….. Selbst die ausgefeilste Theorie eines brillanten Denkers kann, wenn sie nicht auf empirischer Evidenz beruht, nicht den gesammelten Erfahrungen von Hunderten von Personen verglichen werden, von denen jede Dutzende Jahre damit zugebracht hat, die subtilsten Aspekte des Geistes durch direkte Erfahrung auszuloten und so – mit diesem empirischen Ansatz und mit dem Instrument des geübten Geistes – einen Weg gefunden hat, Gefühle, Stimmungen und Wesenszüge allmählich zu transformieren und die am tiefsten verwurzelten Neigungen zu beseitigen, die einer optimalen Lebenseinstellung im Wege stehen.
Wenn wir das erreichen, indem wir die fundamentalen menschlichen Qualitäten stärken, wie Liebe und Güte, innere Freiheit, inneren Frieden und innere Stärke , kann sich jeder Augenblick unseres Lebens qualitativ verbessern. Es kommt zu einer Win-win-Situation, da wir selbst ein glücklicheres oder erfüllteres Leben führen und außerdem zum Glück anderer beitragen können.“

MR: „Wir müssen lernen, die Gedanken kommen und gehen zu lassen, statt ihnen zu gestatten, immer wieder von uns Besitz zu ergreifen. Wir müssen lernen, in der Frische des Augenblicks zu verweilen – das Vergangene ist vorbei, die Zukunft noch nicht erschlossen, und wenn man in reiner Achtsamkeit und Freiheit verharrt, dann kommen die störenden Gedanken, aber sie gehen auch wieder, ohne Spuren zu hinterlassen. Das ist Meditation.“

WS: „Ich kann mir kein von allen Inhalten entleertes Bewusstsein vorstellen. Wenn es leer ist, würde es nicht existieren. Es wäre schlicht nicht definiert.“

MR: „Das Bewusstsein ist auf allen seinen Ebenen ein dynamischer Strom aus Momenten reiner Bewusstheit mit oder ohne Inhalt. Hinter der Trennwand aus Gedanken liegt immer und zu jeder Zeit ein reines Bewusstsein, das nicht von seinem Inhalt getrübt ist…..Das reine Bewusstsein könnte mit Töpfererde verglichen werden und die mentalen Konstrukte mit den verschiedenen Formen, in die der Ton gebracht werden kann. Gleichgültig, welche Form der Ton annimmt, er bleibt selbst im Wesentlichen unverändert.“

MR: „Dem Geist wohnt die Fähigkeit inne, sich selbst zu beobachten…. Man kann seine Gedanken beobachten, starke Emotionen eingeschlossen, wenn man mit dem Aspekt der reinen Achtsamkeit arbeitet, die nicht mit den Gedankeninhalten verknüpft ist. Gedanken sind Manifestationen der reinen Bewusstheit wie die Wellen des Ozeans, die sich aus ihm erheben und wieder in ihm auflösen. …Der Ozean und die Wellen sind nicht wirklich verschieden. Normalerweise sind wir so mit den Gedankeninhalten beschäftigt, das wir den grundlegenden Effekt des reinen Bewusstseins, die reine Bewusstheit, nicht bemerken.“

MR: „Was am Ende wirklich zählt, ist die allmähliche Veränderung eines Menschen. Wenn wir im Lauf von Monaten oder Jahren feststellen, dass wir weniger ungeduldig, weniger reizbar, weniger zwischen Hoffnungen und Ängsten hin- und hergerissen werden, wenn wir merken, dass wir uns gar nicht mehr vorstellen können, jemanden bewusst Schaden zuzufügen, dass wir einen natürlichen Hang zu altruistischen Verhalten entwickeln, dann haben wir das Rüstzeug, mit den Höhen und Tiefen des Lebens fertig zu werden. Das ist eine Probe aufs Exempel. Wie heißt es in den Lehrtexten: ‚Es ist einfach, ein guter Meditierender zu sein, während man mit vollem Bauch in der Sonne sitzt.‘ Unter schwierigen Umständen müssen sich Meditierende wahrhaft bewähren.“

MR: „Ganz und gar von Liebe und Güte erfüllt zu sein ist wohl der positivste Geisterzustand, den man haben kann, und er bewirkt eine optimale Lebenseinstellung. Das heißt, du fühlst dich dauerhaft wohl, du verhältst dich anderen gegenüber altruistisch, und sie nehmen dich als guten Menschen wahr.
All das kann man lernen, so wie andere Fähigkeiten auch.
Man darf Meditation also nicht auf die weitverbreiteten Klischees ‚Entspannung‘ und ‚Leerwerden des Geistes‘ reduzieren. Wir alle spüren immer wieder Liebe und Güte, Freigebigkeit, inneren Frieden und Freiheit von Konflikten in uns. Doch diese Gedanken und Gefühle durchströmen uns und werden schon bald durch andere, unter Umständen auch negative ersetzt, wie Zorn und Eifersucht zum Beispiel.
Damit Altruismus und Mitgefühl zu dauernden Bestandteilen unseres Bewusstseinsstroms werden, müssen wir sie über eine längere Zeit kultivieren. Wir müssen sie uns bewusst machen und sie dann fördern, wir müssen sie wiederholen, bewahren, verstärken, so dass sie unser Denken und Fühlen allmählich ausfüllen….“

MR: „Du musst üben, üben, üben. Skifahren lernt man auch nicht, indem man sich jeden Monat für 15 Sekunden auf die Piste stürzt. Hier ist langfristiger Einsatz gefragt, und das Ziel heißt ‚Anregung von innen.'“

MR: „Wenn man Mitgefühl wieder und wieder in sich erzeugt hat, wird es zur zweiten Natur. Um dahin zu gelangen, muss man seine Achtsamkeit verbessern und die Aufmerksamkeit jedes Mal zurückführen, wenn sie abschweift….Sobald das Mitgefühl Bestandteil deines Bewusstseinsstroms geworden ist, musst du es nicht mehr jedes Mal erzeugen und aufrechterhalten. Wir nennen das ‚Meditieren ohne Meditation‘: Du bist nie aktiv mit Meditieren ‚beschäftigt‘, aber du hörst auch nie mit der Meditation auf. Du hältst dich einfach ohne Ablenkung in diesem heilsamen Geisteszustand auf….. Du musst einen ganz bestimmten Geisteszustand erzeugen und aufrechterhalten und deine Aufmerksamkeit zurückführen, wen der Geist abschweift und sich ablenken lässt.“

WS: “ Das ist richtig. Du machst also im wesentlichen das gleiche wie jemand, der eine neue Fertigkeit erlernen möchte, aber du nutzt die Fähigkeit des menschlichen Gehirns, sich über die in ihm ablaufenden Prozesse Rechenschaft abzulegen, du lenkst deine Aufmerksamkeit auf hirninterne Zustände und versuchst, derer so lange wie möglich bewusst zu bleiben. Meditation ist demnach ein sehr aktiver Prozess, der ein hohes Maß an Aufmerksamkeit erfordert. Indem du deinen inneren Zuständen deine Aufmerksamkeit schenkst, machst du dich mit ihnen vertraut, du lernst sie kennen, und dies erleichtert es dann, sie nach Belieben aufzusuchen. Dadurch wird es dir offenbar möglich, viel leichter zwischen ihnen hin und her zu wechseln, als dies einem nicht mental trainierten Menschen möglich ist….
…Es ist also möglich, durch das während der Meditation erfolgte Training neue mentale Zustände herzustellen und zu lernen, sie auch willentlich herbeizuführen.
Ich finde es bemerkenswert, dass diese Option offenbar nur in bestimmten Kulturkreisen entdeckt wurde. ..
Ein besonders faszinierender Aspekt ist für mich dabei die Tatsache, dass Meditation offenbar zu Veränderungen in der Funktionsweise des Gehirns führt, die den Meditationsprozess selbst überdauern. Kollegen von der Harvard-Universität ist es kürzlich gelungen, nachzuweisen, dass das Volumen der Hirnrinde in bestimmten Arealen der Großhirnrinde bei Menschen mit sehr großer Meditationserfahrung zunimmt…. Somit können ähnliche strukturelle Veränderungen bewirkt werden wie andere Formen des Trainings und Lernens.“

WS: “ Die Meditation hat zwei Effekte: Zum einen lernt man seine Aufmerksamkeitsmechanismen zu vervollkommnen und die Fähigkeit zu verbessern, die Aufmerksamkeit unter willentliche Kontrolle an Inhalte zu binden und sie auch wieder zu lösen.“

MR: “ …und sich mit bestimmten Dingen nicht zu beschäftigen, wenn man nicht will.“

WS: „…und wenn diese Fertigkeit schließlich hinreichend trainiert wurde, lässt sich das Fenster der Aufmerksamkeit willentlich öffnen und schließen, weiten und verengen. …Zum anderen lernt man, seine Aufmerksamkeit auf innere Prozesse zu lenken, sich dadurch mit ihnen vertraut zu machen und sie ins Bewusstsein zu heben. Es scheint sich also um einen zweistufigen Prozess zu handeln. Zunächst werden die Aufmerksamkeitsmechanismen kultiviert, und dann wird diese Fertigkeit genutzt, um innere Zustände zu erforschen und eine bessere Kontrolle über sie zu erlangen.“

MR: „Das ist richtig. Zuerst lernt man die innere Welt zu beobachten und zu unterscheiden zwischen den Emotionen und Geisteszuständen, die zu Leid führen, und solchen, die das echte Glück wachsen lassen. Danach übt man sich in verschiedenen Fertigkeiten wie Aufmerksamkeit und emotionalem Gleichgewicht. Und zuletzt lernt man das Verweilen im reinen Gewahrsein.“

MR: „Du musst kontinuierlich üben und tagaus und tagein meditieren. Es heißt, es sei besser, viele regelmäßige kurze Meditationssitzungen zu absolvieren als einzelne längere in Abständen von einer oder zwei Wochen.“

MR: “ Mit einer Meditation oder einer anderen spirituellen Praktik am frühen Morgen legt man die Grundstimmung für den Tag fest, das setzt einen inneren Transformationsprozess in Gang, der einen wie ein unsichtbarer Strom durch den Tag trägt. Sie schafft eine andere Atmosphäre, eine andere Einstellung, eine andere Art, mit deinen Emotionen und mit den Menschen, denen du begegnest, umzugehen. Was immer auch an einem solchen Tag geschieht, du bist in einer geistigen Verfassung, die dich unterstützt. Untertags kannst du die Meditation
immer wieder einmal aufnehmen, selbst für wenige Momente, um deine Erfahrung zu vertiefen. Wenn du vor dem Einschlafen bewusst eine positive Einstellung hervorrufst, wie zum Beispiel einen Zustand voller Mitgefühl oder Nächstenliebe, dann verleiht das der ganzen Nacht eine andere Qualität.“

MR: „Meine Botschaft ist, dass wir die Möglichkeit zur Veränderung unserer geistigen Verfasstheit nicht unterschätzen dürfen. Wir tragen alle das Potential der Veränderung in uns, und es wäre zu schade, wenn wir diese Option vernachlässigen. Das Leben wird so kostbar, wenn wir seine kurze Spanne nutzen, um ein besserer Mensch zu werden, um unser eigenes Glück und das der anderen zu mehren. Dies bedarf der Anstrengung, aber was geht schon von allein? Lass uns also dieses Gespräch mit einem Satz der Hoffnung und Ermutigung beenden:

Ändere dich selbst, um die Welt zu verändern.“

– Ende der Zitate-


Die Landkarte der Psychosynthese kann bei diesem Bewusstseinstraining sehr hilfreich sein. So ist das „Ich“ oder „Personale Selbst“ als Zentrum von Wahrnehmung der Beobachter mit der Möglichkeit der bewussten Wahl und damit der Möglichkeit von Veränderungen bei unseren inneren Einstellungen, Bildern, die wir von uns haben und einprogrammierten Verhaltensmustern. Dabei ist auch die Arbeit mit Teilpersönlichkeiten ein Teil dieses Veränderungsprozesses. Schließlich erfährt dieses „Ich“ im reinen Gewahrsein, d.h. in der Stille, die Botschaften aus dem transpersonalen Bewusstseinsraum als Intuition, Inspiration und Kreativität.


Quelle:


Wolf Singer und Matthieu Ricard
 Hirnforschung und Meditation. Ein Dialog
Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008
ISBN 978-3-518-26004-3

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