Stille,
die aus dem Herzen kommt :
Innere Ruhe finden in einer lauten Welt
Thich Nhat Hanh
Thich Nhat Hanh (1926 – 2022)
Thich Nhat Hanh war ein vietnamesischer buddhistischer Mönch, Schriftsteller, Lyriker und Begründer der Plum-Village-Tradition. Neben dem Dalai Lama war Thích Nhất Hạnh ein zeitgenössischer Repräsentant der buddhistischen Lehre und ist auch als „Vater der Achtsamkeit“ bekannt. (Wikipedia)
Im Folgenden Textauszüge
Einleitung
„Die Welt ringsum ist voller Wunder und doch ist man ständig auf der Suche nach Glück. Dass wir leben und unsere Schritte auf der Erde setzen, ist an sich schon staunenswert, aber die meisten von uns hetzen herum, als gäbe es anderswo doch noch etwas Besseres. Schönheit ruft uns täglich, stündlich, aber hören wir? Um den Ruf der Schönheit zu hören und ihm antworten zu können, müssen wir zunächst einmal still sein, das ist die Grundbedingung. Solange wir keine Stille in uns haben, sondern Geist und Körper von Lärm erfüllt sind, hören wir den Ruf der Schönheit nicht. In unserem Kopf spielt ein Radio und eingestellt ist der Sender NSD–Nonstop Denken. Es wird immer irgendetwas geplappert und wir haben kaum eine Chance, den Ruf des Lebens, den Ruf der Liebe zu hören. Unser Herz ruft uns, aber wir hören nicht. Wir haben keine Zeit, auf unser Herz zu hören.“
„Achtsamkeit lässt die innere Geräuschkulisse abklingen. Ohne Achtsamkeit werden wir ständig von irgendetwas hierhin und dorthin gezerrt – vor allem von der Vergangenheit, in der es ja immer etwas zu bedauern oder zu beklagen gibt. Wir beschäftigen uns mit längst Vergangenem und durchleiden die früher einmal erlebten Schmerzen immer wieder. So wird die Vergangenheit zum Gefängnis.
Auch die Zukunft lenkt uns ab. Wer der Zukunft mit Bangen entgegensieht, sitzt genau so in der Falle wie jemand, der sich von der Vergangenheit nicht lösen kann. Die Ungewissheit der Zukunft, verbunden mit Ängsten und Befürchtungen, macht uns taub für die Stimme des Glücks, und so wird die Zukunft ebenfalls zum Gefängnis.“
„Achtsamkeit lässt sich als ein Glockenton beschreiben, bei dem wir innehalten und schweigen, um zu lauschen. Wir können zu diesem Zweck tatsächlich eine Glocke verwenden, aber jedes andere Zeichen tut es auch, sofern es uns daran erinnert, dass wir uns nicht von der äußeren und inneren Geräuschkulisse vereinnahmen lassen wollen. Beim Klang der Glocke halten wir inne. Wir verfolgen unseren Atem–einatmen, ausatmen–und schaffen Raum für Stille. Innerlich sagen wir: »Beim Einatmen weiß ich, dass ich einatme. Beim Ausatmen weiß ich, dass ich ausatme.«
Bei diesem achtsamen Ein -und Ausatmen, wenn wir wirklich nur auf den Atem achten, können wir alles in uns zum Schweigen bringen, all das Wortgeklingel über Vergangenheit, Zukunft und unser Verlangen nach mehr. Schon nach zwei oder drei Sekunden des achtsamen Atmens kann uns bewusst werden, dass wir lebendig sind und atmen.“
„Wir sind da. Wir existieren. Dann verstummt der innere Lärm und es entsteht etwas Weiträumiges, der Raum einer kraftvollen und beredten Stille. Jetzt erreicht uns der Ruf der Schönheit ringsum und wir antworten: »Ich bin hier. Ich bin frei. Ich höre dich. Was bedeutet »Ich bin hier«? Es bedeutet: »Ich existiere. Ich bin wirklich hier, weil ich nicht in der Vergangenheit, in der Zukunft, in meinem Denken umherirre, nicht im inneren Lärm und nicht im äußeren Lärm. Ich bin hier.« Um wirklich zu sein, muss man frei sein: frei vom Denken, frei von Befürchtungen, frei von Angst, frei von Verlangen. »Ich bin frei«, das sind gewaltige Worte und die Wahrheit sieht so aus, dass sehr viele von uns nicht frei sind. Sie verfügen nicht über die Freiheit, die ihnen erlauben würde, zu hören, zu sehen und einfach nur zu sein.“
Unser tiefstes Anliegen
„Wenn es Ihnen gelungen ist, alle inneren Geräusche abzustellen, wenn Stille eingekehrt ist, donnernde Stille, werden Sie immer deutlicher einen Ruf aus der Tiefe hören, der von innen kommt. Ihr Herz ruft Sie da. Ihr Herz möchte Ihnen etwas sagen, aber Sie konnten es bisher nicht hören, weil es zu laut in Ihnen war. Sie sind ständig abgelenkt gewesen, Tag und Nacht. Sie waren buchstäblich gedankenvoll und es handelte sich vorwiegend um negative Gedanken.
Unser tiefstes Anliegen hat nichts mit den alltäglichen Belangen der materiellen Sicherheit und emotionalen Geborgenheit zu tun. Es liegt in der Frage, was wir mit unserem Leben anfangen wollen. Ich bin hier, aber wozu bin ich hier? Wer bin ich überhaupt? Was möchte ich mit meinem Leben anfangen? Das sind Fragen, für deren Beantwortung wir uns normalerweise keine Zeit nehmen.
Das sind nicht nur philosophische Fragen, denn wenn wir sie nicht beantworten können, finden wir keinen Frieden, und ohne Frieden finden wir keine Freude, denn Freude ist nicht möglich ohne Frieden. Viele von uns glauben, solche Fragen seien nicht zu beantworten, aber in der Achtsamkeit, wenn wir innerlich ein wenig still geworden sind, werden die Antworten hörbar. Sie können Antworten auf solche Fragen finden, Sie können den tiefen Ruf Ihres Herzens hören.“
Nicht mehr rennen
„ Achtsamkeit schafft einen ruhigen inneren Raum, in dem Sie einmal genau hinschauen können, um zu sehen, wer Sie sind und was Sie mit Ihrem Leben anfangen möchten. Sie werden dann keine Lust mehr haben, sinnlosen Dingen nachzulaufen. Bisher sind Sie gerannt, immer auf der Suche nach etwas, weil Sie meinten, es handle sich um etwas, das Sie brauchen, um Frieden und Sicherheit zu finden. Sie treiben sich an, dies oder jenes zu erreichen, damit Sie dann glücklich sein können. Sie denken, es seien noch nicht alle Bedingungen erfüllt, und daraus entsteht die Gewohnheit, immer irgendetwas hinterherzurennen. »Ich kann jetzt noch nicht in Frieden sein, ich kann nicht anhalten und das genießen, was vorhanden ist, es fehlt noch so manches, bis ich glücklich sein kann.« Aber das Leben ist voller Wunder, auch voller wunderbarer Klänge. Wer hier sein kann, der ist frei und kann hier und jetzt glücklich sein. Kein Grund mehr zur Eile.“
Übung
Die Übung der Achtsamkeit ist sehr einfach. Sie halten an, Sie atmen, Sie lassen innerlich Ruhe einkehren. Sie kehren heim zu sich selbst und genießen in jedem Augenblick das Hier und Jetzt. Das Wunderbare des Lebens ist bereits gegeben. Es ruft Sie. Hören Sie hin und Sie werden aufhören zu rennen. Sie brauchen das, was wir alle brauchen: Stille. Sorgen Sie für innere Stille und die wunderbaren Laute des Lebens werden hörbar. Da beginnt das wahre Leben, echt und tief.
Stille ist lebenswichtig. Wir brauchen Stille genauso wie Atemluft oder wie die Pflanzen das Licht brauchen. Wenn wir innerlich voller Worte und Gedanken sind, wo bliebe dann Platz für uns?
Angst vor der Stille
„Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen die Stille fürchten. Wir nehmen eigentlich immer irgendetwas in uns auf, was allen Raum einnimmt – Text, Musik, Nachrichten oder einfach Gedanken. Wenn Stille und Freiraum so wichtig für unser Glück sind, weshalb halten wir ihnen dann nicht mehr Platz frei in unserem Leben?
Was fürchten wir eigentlich? Es kann eine innere Leere sein, ein Gefühl von Vereinzelung, ein Kummer oder einfach Unruhe. Vielleicht fühlen wir uns verlassen und ungeliebt oder wir haben den Eindruck, dass uns irgendetwas ganz Wichtiges fehlt. Manche dieser Gefühle begleiten uns schon unser ganzes Leben und sind unter allem Tun und Denken immer präsent. Die Fülle der Außenreize macht es uns leichter, diese tieferen Gefühle nicht wahrzunehmen. Doch sobald einmal Stille einkehrt, stehen alle diese Dinge überdeutlich vor uns.“
ÜBUNG:
Atmen als Nahrung
Wenn wir uns einsam fühlen oder angespannt sind, suchen wir oft ganz automatisch nach Ablenkungen, die uns wiederum gern zu ungesundem Konsum verleiten. Wir essen, ohne Hunger zu haben, wir surfen ziellos im Internet, wir lesen oder wir fahren einfach so in der Gegend herum. Da kann das bewusste Atmen eine willkommene Alternative sein: Wir nähren Körper und Geist mit Achtsamkeit. Schon nach wenigen achtsamen Atemzügen kann das Verlangen nach Futter oder Ablenkung nachlassen. Körper und Geist kommen wieder zusammen und beide werden vom achtsamen Atmen genährt. Der Atem wird ganz von selbst entspannter und diese Entspannung greift auf den Körper über. Die Rückkehr zum bewussten Atmen verschafft Ihnen eine wohltuende Pause. Außerdem wird Ihre Achtsamkeit dabei stärker, sodass Sie über die nötige Ruhe und Konzentration verfügen, wenn Sie sich einmal Ihre angespannte Verfassung, Ihre Ängste oder andere Emotionen genauer ansehen möchten.
Haltmachen und loslassen
„Auch wenn wir gerade nicht mit jemandem reden oder lesen, Radio hören, Fernsehen oder online kommunizieren, sind wir nicht unbedingt ausgeglichen und ruhig. Es liegt daran, dass wir dann immer noch den erwähnten inneren Radiosender NSD oder Nonstop-Denken eingestellt haben.
Vielleicht sitzen wir still da und von außen kommt gerade nichts auf uns zu, und trotzdem spinnt sich in unserem Kopf ein endloser Dialog. Wir kauen auf unseren eigenen Gedanken herum… Wir müssen lernen, Radio NSD abzuschalten.“
Natürlich sind unsere Gedanken nicht immer schlecht. Unser Denken kann sehr produktiv sein… Deshalb können wir Denken als eine Art Frucht betrachten. Manche Früchte sind sehr nahrhaft, andere nicht. Sorge, Angst, Kummer sind der Boden für nutzloses, unproduktives und schädliches Denken.“
Achtsamkeit bedeutet: Die Aufmerksamkeit zurückholen
„Achtsamkeit bedeutet: Die Aufmerksamkeit zurückholen Nicht denken, das ist eine Kunst, die wie jede Kunst Geduld und Übung verlangt. Wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit zurückerobern möchten, um zu erreichen, dass Körper und Geist wenigstens zehn Atemzüge lang wiedervereinigt sind, kann das zunächst schwierig sein. Üben Sie weiter und Sie werden wieder ganz präsent sein können, Sie werden lernen, einfach zu sein. Am leichtesten halten Sie das gewohnte Gedankenkarussell an, wenn Sie einfach ein paar Minuten still dasitzen. Dabei werden Sie beobachten können, wie sich Gedanken einstellen, aber Sie gehen ihnen nicht nach, Sie lassen sich nicht in Grübeleien verwickeln. Stattdessen sammeln Sie sich auf den Atem und die innere Stille und lassen die Gedanken einfach kommen und gehen.
Wenn Sie auch nur ein paar Minuten aufwenden, um den Körper, die Gefühle und die Wahrnehmung Ruhe finden zu lassen, rückt Freude in greifbare Nähe. Die Freude wahrer Ruhe wird zur täglichen heilkräftigen Nahrung.
„Mit Stille ist jedoch nicht nur gemeint, dass wir nicht reden. Das meiste Gerede findet innerlich in unseren Köpfen statt. Wir denken und überdenken, endlos und immer im Kreis herum. Deshalb ist es gut, sich am Beginn einer Mahlzeit in Erinnerung zu rufen, dass wir unser Gericht essen möchten und nicht unsere Gedanken. Wir üben es, mit voller Aufmerksamkeit zu essen. Es wird nicht gedacht, wir achten einfach auf das Essen und die Menschen um uns herum. Es geht aber nicht darum, überhaupt nicht mehr zu denken oder unsere Gedanken zu unterdrücken. Es geht darum, dass wir uns etwa beim Gehen eine Pause vom Denken gönnen, während wir aufmerksam unsere Schritte und Atemzüge verfolgen. Sollte es wirklich etwas geben, was bedacht werden muss, bleiben wir stehen und wenden uns ganz der Überlegung zu.“
Nicht sprechen, das allein kann schon deutlich mehr Frieden schaffen. Wenn wir uns dann auch noch die Wohltat des inneren Schweigens gönnen, finden wir in dieser Stille wunderbare Leichtigkeit und Freude.
„Die Aufmerksamkeit von unseren Gedanken abzuziehen, um zu dem zurückzukehren, was tatsächlich gerade geschieht – das ist eigentlich die Hauptpraxis der Achtsamkeit. Es ist jederzeit und überall möglich und macht das Leben so viel erfreulicher. Beim Kochen, während der Arbeit, ja beim Zähneputzen, Wäschewaschen oder Essen verspricht das Abschalten unseres Denkens und Sprechens immer einen erfrischenden Hochgenuss. Wahre Achtsamkeit verlangt nicht unbedingt Meditation oder überhaupt etwas an formeller Praxis. Sie verlangt nur einen tiefen Blick und innere Stille. Ohne das richten wir nichts gegen die in uns wirksamen Energien der Gewalt, der Angst, der Feigheit und des Hasses aus.“
„Wenn es in unserem Geist hektisch und laut zugeht, bleibt äußere Ruhe unecht. Finden wir jedoch innerlich Raum und Ruhe, strahlen wir ganz selbstverständlich und ungezwungen Frieden und Freude aus. Dann können wir auch anderen helfen und ohne ein einziges Wort ein heilsames Umfeld bieten.“
Donnernde Stille
„Man könnte es die kollektive Krankheit unserer Zeit nennen, dieses ständige Bedürfnis, uns mit irgendetwas zu füllen. Der Markt stellt uns jederzeit gern alles bereit, womit wir uns füllen können. Dazu hämmert uns die Werbung ein, uns nur ja nicht ohne diesen oder jenen Schnickschnack erwischen zu lassen, der gerade als Must-have ausgeschrien wird. Aber vieles, was wir konsumieren, ist im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne mit Giftstoffen belastet, Nahrungsmittel ebenso wie sinnliche Erfahrungen. Nach einer ganzen Tüte Chips fühlen wir uns nicht unbedingt blendend, und nach einigen Stunden mit Videospielen oder in den sozialen Medien geht es uns nicht anders. Solcher Konsum dient dem Zweck, unangenehme Gefühle auszublenden oder zu übertönen, aber anschließend sind wir eher noch einsamer, wütender und verstörter. Hören wir also auf, uns selbst mit diesem zwanghaften Konsum auszuweichen. Natürlich brauchen wir unser Telefon und natürlich müssen wir auch das Internet benutzen. Keine Frage auch, dass Sinnesnahrung ebenso notwendig ist wie essbare Nahrungsmittel. Aber wir könnten sicher bewusster und intelligenter bei der Wahl unserer Sinnesnahrung sein und auch wissen, weshalb wir sie gerade zu uns nehmen möchten.“
Loslassen
„ Viele Zen-Meister haben schon gesagt, dass es bei der Achtsamkeitsmeditation vor allem auf das Nicht-Denken ankommt. Meditation heißt ja auch nicht, dass man still dasitzt und denkt! Wenn das Denken überhandnimmt, verlieren Sie den Kontakt zu Ihrem Körper und Ihrer ganzheitlichen Wahrnehmung. Wir Menschen klammern uns gern fest an unsere Gedanken und Ideen, an unsere Emotionen. Wir halten sie für real, wir glauben, wir würden unsere Identität aufgeben, wenn wir von ihnen ablassen.
Wie die allermeisten Menschen gehen Sie vermutlich davon aus, dass noch irgendwelche Bedingungen erfüllt sein müssen, bevor Sie glücklich sein können. Das kann ein Diplom sein, eine Beförderung, eine Gehaltserhöhung, eine Beziehung. Aber gerade diese Sicht der Dinge hält Sie womöglich davon ab, glücklich zu sein. Um sich von dieser Vorstellung zu lösen, damit Raum für wahres Glück entsteht, müssen Sie erst einmal die Wahrheit akzeptieren, dass dieses Denken für Sie mit Leid verbunden ist. Vielleicht haben Sie zehn oder zwanzig Jahre so gedacht und nie bemerkt, dass Ihre natürliche Fähigkeit zum Glücklichsein deshalb nicht zum Zuge kommen kann.“
Wahre Stille: die höhere Qualität, die Essenz der Stille
„Wenn wir uns von Ideen, Gedanken und Konzepten lösen, entsteht Raum für unseren wahren Geist. In unserem wahren Geist ist nichts von all den Worten und Ansichten. Er ist still und so viel weiter als unser begrenzter denkender Verstand. Nur wenn der Ozean still und ruhig ist, können wir sehen, wie der Mond sich darin spiegelt. Stille kommt letztlich aus dem Herzen und hat wenig mit äußeren Umständen zu tun. Ein Leben aus der Stille bedeutet nicht, dass wir nie sprechen, auf nichts eingehen und nichts tun. Stille bedeutet einfach Schweigen: Wir sind nicht aufgewühlt und es findet kein ununterbrochenes Plappern in uns statt. Im wahren Schweigen spielt es keine Rolle, was sich um uns herum abspielt, wir finden uns immer im wunderbar weiten Raum der Stille.
Manchmal glauben wir still zu sein, weil ringsum nichts zu hören ist. Bevor wir allerdings nicht unseren Geist beruhigt haben, geht das Gerede in unserem Kopf weiter. Das ist keine wahre Stille. In unserer Praxis bemühen wir uns zu lernen, wie wir auch im Tun Stille finden können. Es geht darum, dass Sie Ihr Denken und Ihr Schauen ändern.“
„Sich zum Essen hinzusetzen kann eine schöne Gelegenheit sein, sich das Geschenk des kostbaren Schweigens zu machen. Andere ringsum mögen sich unterhalten, aber Ihnen steht es frei, sich von der Gewohnheit des Denkens zu lösen und innerlich ganz still zu sein. Mitten im Gewühl können Sie in wohltuender Stille, ja sogar für sich allein sein.“
Vergegenwärtigen Sie sich , dass Stille aus dem Herzen kommt und mehr ist als die Abwesenheit des Redens
Wie innere Stille keiner äußeren Stille bedarf, bedeutet Alleinsein nicht unbedingt, dass außer Ihnen niemand zugegen ist. Was Alleinsein wirklich bedeutet, wird sofort klar, wenn Sie ganz im Hier und Jetzt verankert sind und bewusst wahrnehmen, was gerade geschieht. In der Achtsamkeit werden Sie auf jedes Ihrer Gefühle, jede Wahrnehmung aufmerksam. Sie bekommen mit, was um Sie her geschieht, aber Sie bleiben auch in sich selbst vollkommen präsent, Sie verlieren sich nicht in das, was außen geschieht. Das ist wahres Alleinsein.“
Tiefes Zuhören
„Sehr oft sind wir so voller Gedanken, dass wir kaum noch uns selbst, geschweige denn anderen zuhören können. Unsere Eltern sagten uns und in der Schule wurde es wiederholt, dass wir uns sehr vieles merken, dass wir uns Wörter und Begriffe einprägen müssen. Irgendwann glaubten wir schließlich, diese mentale Halde sei wirklich nützlich fürs Leben. Doch beim Versuch, ernsthafte Gespräche zu führen, stellen wir dann vielleicht fest, dass wir große Mühe haben, den anderen zu verstehen oder auch nur aufzunehmen, was er oder sie sagt. Stille erlaubt uns, wirklich hinzuhören und mit Bedacht zu antworten–und das sind die beiden entscheidenden Voraussetzungen für aufrichtigen und gehaltvollen Austausch.“
Raum zum Atmen
„ Machen Sie ein Zimmer zum Meditationsraum oder widmen Sie einen Teil eines Zimmers diesem Zweck. Viel Platz ist nicht erforderlich. Eine kleine Ecke kann schon genügen, solange Sie dafür sorgen, dass sie für Frieden und stille Betrachtung reserviert bleibt. Das ist Ihr Atemraum, eine Mini-Meditationshalle. Solange dort jemand sitzt, sollte möglichst kein anderer aus der Familie das Zimmer betreten, um denjenigen anzusprechen. Verständigen Sie sich mit den anderen darauf, dass es ein Ort des Friedens und der Ruhe sein soll.“
Ein achtsamer Atemzug
„ Um es noch einmal zu sagen: Die einfachste Möglichkeit, das endlose Kreisen der Gedanken anzuhalten, besteht darin, dass wir das achtsame Atmen üben. Wir atmen ununterbrochen, achten jedoch selten darauf. Und noch seltener genießen wir unseren Atem bewusst. Ein achtsamer Atemzug ist eine kleine Köstlichkeit, in deren Genuss Sie kommen, wenn Sie einen vollen Atemzyklus mit Einatmen und Ausatmen mit ungeteilter Aufmerksamkeit verfolgen. Wenn Sie beim Atmen aufmerksam bleiben, ist es so, als würden alle Zellen Ihres Gehirns und des übrigen Körpers das gleiche Lied singen. Vielleicht sind Sie voller Traurigkeit, Ärger oder Einsamkeit, doch wenn Sie jetzt ganz nah an Ihrem Atem bleiben, können Sie sich auf diese Gefühle einlassen, ohne dass Sie befürchten müssen, von ihnen beherrscht zu werden.
Mit dem achtsamen Atmen sagen Sie sich gleichsam: »Keine Sorge, ich bin hier, ich bin zu Hause, und ich kann mich um diese Gefühle kümmern.«
Mit dem achtsamen Atmen wenden Sie sich nach innen. Ihr Körper atmet. Ihr Körper ist Ihr Zuhause. Mit jedem Atemzug können Sie zu sich nach Hause kommen. Ihr achtsamer Atem ist Ihr sicherer Hafen. Wenn Sie Ihre angestrebten Ziele erreichen, Ihren Angehörigen und Freunden nah sein und etwas Nützliches für das Gemeinwesen tun möchten, fangen Sie am besten bei Ihrem Atem an. Jeder achtsame Atemzug oder Schritt, jede achtsame Handlung bringt Sie weiter.“
„Wenn Sie am Morgen aufwachen, können Sie den Tag noch im Bett mit einem achtsamen Atemzug begrüßen. Nehmen Sie sich diesen Moment, in dem Sie nur einatmen und ausatmen und um die vierundzwanzig vor Ihnen liegenden nagelneuen Stunden wissen. Welch ein Geschenk des Lebens! Als Novize musste ich zur Unterstützung meiner Achtsamkeitspraxis allerlei kleine Verse auswendig lernen.
Der erste ging so: Beim Aufwachen heute Morgen lächle ich. Vierundzwanzig funkelnagelneue Stunden! Ich gelobe, sie voll und ganz zu leben und alles ringsum mit Mitgefühl zu betrachten. Wir haben hier vier Zeilen. Bei der ersten atmen Sie ein, bei der zweiten aus, bei der dritten wieder ein und bei der vierten aus. Beim Atmen halten Ihnen die Zeilen des Verses die heilige Dimension Ihres Tuns vor Augen. Sie möchten diese vierundzwanzig frischen, unverbrauchten, neuen Stunden so nutzen, dass sie Frieden und Glück ermöglichen. Sie sind entschlossen, diese vierundzwanzig Stunden nicht zu vergeuden, denn Sie wissen, dass sie ein Geschenk des Lebens sind, das Sie jeden Morgen wiederbekommen.“
„Auch die Sitzmeditation ist eine wunderbare Gelegenheit zum achtsamen Atmen. Viele Menschen können sich diese Auszeit nicht erlauben, in der sie nichts weiter tun, als dazusitzen und zu atmen. Sie sehen das als Luxus oder als nicht sinnvoll genutzte Zeit–»Zeit ist Geld«. Aber Zeit ist viel mehr als Geld. Zeit ist Leben. Das schlichte regelmäßige Stillsitzen ist von tiefer Heilkraft. Nur sitzen–es gibt kaum etwas Besseres für die ausschließliche Sammlung auf das achtsame Atmen.“
Die Insel des Ichs
„ Wenn wir nach Hause kommen, können wir uns entspannen und ganz ungezwungen wir selbst sein. Wir fühlen uns warm und in Sicherheit und geborgen. Daheim–das ist ein Ort, an dem sich die Einsamkeit verliert. Aber wo ist eigentlich unser Zuhause?“
Unser wahres Zuhause ist das, was der Buddha »Insel des Selbst« genannt hat, ein Ort des Friedens in uns. Häufig merken wir nicht einmal, dass dieser Ort vorhanden ist, und eigentlich wissen wir auch nicht, wo wir sind, so viel Lärm herrscht in unserer inneren und äußeren Welt. Um diese Insel des Selbst zu finden, müssen wir zur Ruhe kommen.
Immer, wenn Sie sich unwohl fühlen, wenn Sie traurig, aufgeregt, verängstigt oder voller Sorgen sind, können Sie den achtsamen Atem nutzen, um zu Ihrer Insel der Achtsamkeit zurückzukehren. Wer regelmäßig Achtsamkeit übt und seine Insel auch dann immer aufsucht, wenn es keine Unannehmlichkeiten gibt, tut sich bei auftauchenden Problemen viel leichter, diesen sicheren Ort im Innern zu finden und frohen Herzens nach Hause zu gehen.“
Freiheit von Gewohnheitsenergie
„Wir alle tragen Klumpen von Gewohnheitsenergie in uns. Es ist eine unbewusste Energie, die uns immer auf die gleiche Art reagieren lässt. Sie macht uns Beine, sie hält uns in Atem, sie beschäftigt uns pausenlos mit Gedanken an die Vergangenheit und Zukunft und lässt uns die Schuld an unserem Leiden bei anderen suchen. Sie erlaubt uns nicht, Frieden und Glück im gegenwärtigen Augenblick zu finden.“
„Alle Tage überlassen wir diese unsichtbaren Energien die Herrschaft über unser Leben. Wir agieren und reagieren unter dem Einfluss dieser tief sitzenden Tendenzen. Aber von Natur ist unser Gehirn eigentlich flexibel. Unser Gehirn besitzt Plastizität, wie die Neurowissenschaftler es nennen. Das bedeutet, dass wir unser Gehirn verändern können.“
Glück ist auch, anhalten zu können, um den gegenwärtigen Augenblick bewusst wahrzunehmen. Wir können nicht in der Zukunft glücklich sein – und das ist keine Glaubenssache, sondern Erfahrungssache.
„Kommt der Körper zum Stillstand, scheint das innere Stimmengewirr lauter zu werden. Gelingt es jedoch, das innere Plappern anzuhalten, den ständigen Erregungszustand des Denkapparats, so weitet sich etwas in uns und bietet uns die Chance zu einer radikal neuen und befriedigenden Lebensform.“
Verbundenheit einüben
„Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit hatten wir so viele Mittel zu Kommunikation – Handys, E-Mail, soziale Medien und so weiter. Dennoch sind wir einander ferner denn je. Es gibt erstaunlich wenig echte Kommunikation zwischen den Angehörigen einer Familie, zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft, zwischen Staaten.“
„Wer mit anderen wirklich verbunden sein möchte, muss ihnen nicht noch mehr SMS schicken, sondern besser zuhören. Verstehen kommt aus tiefem Zuhören und gibt uns das Gefühl, mehr verbunden zu sein.“
Die Musik der Stille
„In jeder Musik gibt es Ruhemomente, in denen kein Ton erklingt. Ohne diese Zwischenräume wäre es einfach Kakophonie. Musik ohne Stille wäre chaotisch, sie würde einen »erschlagen«. Wenn wir mit einem Freund beieinandersitzen können, ohne etwas zu sagen, ist das so kostbar und wichtig wie die Pausen in der Musik. Gemeinsames Schweigen kann schöner sein als Worte.“
In Stille zusammenkommen
„Unsere regelmäßige Praxis in einer Gemeinschaft nachzugehen ist eine wunderbare Sache. Beim gemeinsamen Sitzen umfängt die Energie der Achtsamkeit alle unserer Schmerzen. Dann sind wir wie ein Tropfen im großen Fluss und fühlen uns gleich viel besser.“
„Das kostbarste Geschenk, das wir einander machen können, ist unsere Präsenz, mit der wir zu kollektiven Energie der Achtsamkeit und des Friedens beitragen. Wir können für andere sitzen, die es nicht können, wir können für andere gehen, die es nicht können, und wir können in uns Stille und Frieden schaffen für Menschen, die beides nicht haben.“
Präsent sein
Wenn wir in allem, was wir zu tun haben, kleine Freiräume der Stille schaffen, nähern wir uns der wahren Freiheit an. Dann rangeln wir nicht mehr um Positionen und Ansehen, um all das, wovon wir uns bisher das Glück versprochen haben. Wir können sofort glücklich sein. Jetzt im Moment können wir Frieden und Freude haben. Selbst wenn wir unser Leben lang Getriebene waren und nur noch zwei Minuten zu leben haben, können wir unsere Gedanken anhalten, achtsam atmen und Stille und Frieden in uns finden. Aber warum sollten wir erst auf unserem Totenbett präsent sein und das Leben als die Kostbarkeit erkennen, die es ist?
Mein Fazit
Um wirklich zu sein, muss man frei sein, frei sein von Befürchtungen, frei sein von Angst, frei von Verlangen. Dieses Zitat ist die Essenz meines Fazits. Denn wer möchte das nicht, wirklich frei zu sein von inneren Zwängen und von Gedanken, die mit der Vergangenheit oder bereits mit der Zukunft beschäftigt und häufig negativ sind.
Der Weg zu dieser Freiheit bedeutet, die Stille in uns zu kultivieren. Wir brauchen Stille genauso wie Atemluft, so wie die Pflanzen das Licht brauchen. Dieses Zitat unterstreicht die Bedeutung von Stille in unserem Leben. „Was fürchten wir eigentlich? Innere Leere, die uns unruhig macht, die Erfahrung von Einsamkeit? Es ist wohl meistens diese ständige Unruhe in uns, die mit Ängsten und Befürchtungen verbunden ist. So suchen wir ständig nach Ablenkung, um diesen Zustand von Stille zu vermeiden.
Was ist notwendig, um diese Stille nicht nur wieder ertragen zu können sondern auch als lebensnotwendig für unser Leben zu erkennen und zu schätzen? – Thich Nhat Hanh empfiehlt, zum bewussten Atmen zurückzukehren. Ich bevorzuge die Formulierung, bewusst den Atem wahrzunehmen, denn der Atem geschieht auch, wenn wir uns dessen nicht bewusst sind. Man kann den Tag beginnen, ein paar Atemzüge bewusst nach dem Aufstehen wahrzunehmen.
Das Wahrnehmen des Atems ist die Essenz fast jeder Meditation. Wer sich die Zeit nimmt, morgens zum Beispiel 20 Minuten lang zu meditieren, wird die Auswirkungen den ganzen Tag über spüren. Noch wichtiger aber ist, tagsüber kleine Pausen einzulegen und für ein paar Minuten, die Aufmerksamkeit auf den Atem zu richten. Wir kommen dann in Kontakt mit der Stille in uns, die wir nach und nach mehr schätzen werden.
Man kann, wie Thich Nath Han vorschlägt, eine Ecke in seiner Wohnung einrichten und sie als eine Insel der Stille betrachten, um hier mit seinem inneren Zuhause nach und nach vertraut zu werden. Auf dieser Insel der Stille können wir auch intuitive Botschaften empfangen, die in die Stille als Ideen „einfallen“.
Wer beginnt, dieses bewusste Wahrnehmen von Atmen beharrlich und regelmäßig zu praktizieren, verändert sein Leben. Diese Kultivierung von Stille in uns ist der Weg zu einer Freiheit, in der wir anders mit Stress umgehen und mit mehr Gelassenheit den Herausforderungen des Lebens begegnen können.
Das Buch:
Thich Nath Hanh
Stille, die aus dem Herzen kommt.
Lotus – Verlag
Thich Nath Hanh auf YouTube
Umwandlung und Heilung – Über Angst, Wut und Achtsamkeit
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