Fülle und Nichts – Steindl-Rast

Original Buchtitel:
“Gratefulness“  The Heart of Prayer

Wir sind fähig zu Erfahrungen der Vereinigung mit der „letzten Wirklichkeit“. Bruder David zeigt den Weg, aufzuwachen und anzukommen – im Hier und Jetzt, denn nur hier und jetzt ist die Fülle.

(Text auf der Rückseite des Buches)

David Steindl-Rast (*1926)

verbindet die mystischen Traditionen des Christentums mit seinen persönlichen Erfahrungen mit dem Zen-Buddhismus. In den 70er Jahren gründete er gemeinsam mit Rabbinern, Buddhisten, Hinduisten und Sufis das „Centre for Spiritual Studies“, um den interreligiösen Dialog zu fördern. Heute lebt er im Europakoster Gut Aich in Österreich.

Einleitung und Hinführung zum Inhalt

Die Übersicht der Inhalte des Buches in den einzelnen Kapiteln fasst das, was das Buch vermittelt, in einer sehr guten Weise zusammen. Daher zunächst diese Übersicht der einzelnen Kapitel und dann Textauszüge zu diesem Thema.

Lebendigsein und Wachsein

„Dass du noch nicht gestorben bist, reicht nicht aus als Beweis, dass du wirklich lebst. Lebendigkeit bemisst sich am Grad deines Wachseins.“

Textauszüge:

„Dafür bedarf es mehr. Es verlangt Mut, vor allem den Mut, sich dem Tod zu stellen. Nur jemand, der lebendig sein kann, kann sterben. In Momenten höchster Lebendigkeit sind wir mit dem Tod versöhnt. Ganz tief in uns sagt uns etwas, dass wir zum Tode reif werden in dem Augenblick, in dem unser Leben Erfüllung erlangt. Es ist die Angst vor dem Tod, die uns abhält, ganz und gar reif, ganz und gar lebendig zu werden.

Staunen und Dankbarkeit

„Voll Staunen darüber aufwachen, dass wir in einer „gegebenen“ Welt leben, bedeutet lebendig zu werden. Das Bewusstsein dieser Überraschung ist der Anfang der Dankbarkeit.“

Textauszüge:

„Unsere Augen öffnen sich diesem Überraschungscharakter unserer Welt im gleichen Moment, da wir aufwachen und aufhören, alles als selbstverständlich zu erachten. Regenbogen haben etwas an sich, das uns aufwachen lässt. – Gelangweilte und langweilige Erwachsene werden zu erregten Kindern…. Wenn so etwas geschieht, dann ist unsere spontane Reaktion Überraschung. Plato erkannte jene Überraschung als den Anfang aller Philosophie. Sie ist auch der Beginn von Dankbarkeit… Überraschung ist nicht mehr als der Anfang jener Fülle, die wir Dankbarkeit nennen… In Momenten der Überraschung können wir wenigstens einen kurzen Blick auf die Freude werfen, zu der uns Dankbarkeit die Tür öffnet.“

Herz und Sinn

„Mit unserem Intellekt können wir das, was uns geschenkt ist, als Geschenk erkennen. Aber nur unser Herz kann sich zur Dankbarkeit aufschwingen und so Sinn finden.“

Textauszüge:

„Dankbarkeit ist eine sinnvolle Geste des Herzens. Unser Intellekt, unser Wille, unsere Gefühle sind alle beteiligt, wenn wir dankbar sind… Dankbarkeit kommt immer aus ganzen Herzen. Der ganze Mensch ist daran beteiligt. Und genau dafür steht das Symbol des Herzens – für den ganzen Menschen… Nur im Herzen sind wir ganz. Das Herz stellt jenes Zentrum unseres Seins dar, an dem wir eins sind mit uns selbst, eins mit allen anderen, eins mit Gott. Das Herz ist ruhelos nach seiner Sehnsucht nach Gott und doch, tief im Innern ist es immer zu Hause bei Gott. Aus dem Herzen zu leben heißt, diese Sehnsucht und dieses Daheimsein völlig auszukosten. Beides zusammen bedeutet erst Leben in Fülle.“

Gebet und Gebete

„Es kommt nicht auf Gebete an, sondern aufs Beten – auf das Gebet, das in seiner letzten Fülle dankbares Leben bedeutet.“

Textauszüge:

„Wenn das, was Gott genannt wird, in der Sprache religiöser Erfahrung ‚Sinnquelle‘ genannt werden muss, dann sind jene Augenblicke, die den Durst des Herzens stillen, Momente des Gebets. Sie sind Momente, in denen wir mit Gott kommunizieren, und das ist das Wesen des Gebetes. Sind wir uns aber bewusst, dass dieses ‚Sinnfinden‘ Gebet ist? In diesem Fall lautet die Antwort meistens ‚nein‘. Und unter diesem Aspekt können wir nicht davon ausgehen, dass jeder weiß, was Gebet ist… Wachsein und uneingeschränkte Aufmerksamkeit sind die Charakteristika unserer spontanen Gebetsmomente…Aufmerksamkeit setzt Konzentration voraus. Konzentration ist deshalb ein wesentlicher Bestandteil der Sammlung im Gebet…Sammlung besteht aus zwei Teilen. Konzentration ist nur einer davon. Der andere steht hier für eine Art dauernder Überraschung… Das Wort Sammlung steht hier im Gegensatz zu Zerstreutheit und deutet auf eine Wiederherstellung unseres Gesammeltseins hin, das wir einmal besaßen und dann durch Zerstreuung verloren haben…Wenn wir kleine Kinder in ihrem Laufstall beobachten, erkennen wir, wie nahtlos sie Konzentration mit Staunen verbinden… Das Kind in uns bleibt lebendig. Und dieses Kind verliert nie die Fähigkeit, mit den Augen des Herzens zu sehen, Konzentration mit Staunen zu verbinden und so ohne Unterlass zu beten.“

Kontemplation und Muße

„Für uns alle (nicht nur für sogenannte Kontemplative) ist die Kontemplation die Erfüllung dankbaren Lebens. Kontemplation aber ist die Kunst, in Muße zu leben.“

Textauszüge:

„Kontemplation bringt Einsicht und Handeln zusammen. Kontemplation setzt die Schau in die Tat um… Tat ohne Schau wäre blinder Aktivismus. Schau ohne Tat wäre unfruchtbare Schau…Wenn wir uns nicht verlieren wollen, dann müssen wir unser Augen auf die Sterne richten und unsere Füße auf dem Boden halten. Das bedeutet, dass wir alle kontemplativ sein müssen.“ – „Muße ist die Tugend jener, die sich ihre Zeit nehmen und jeder Aufgabe genauso viel Zeit geben, wie sie verdient. Geben und Nehmen, Spiel und Arbeit, Schau und Tat halten sich in der Muße tänzerisch die Waage. In dem Maß, in dem wir in unserem Leben Muße verwirklichen, schöpfen wir aus der Fülle des Lebens.“

Glaube: Vertrauen auf den Geber

„Dankbarkeit setzt voraus, dass wir uns auf das Leben, das sich uns schenkt, verlassen. Jenseits aller Überzeugungen ist das Gebet des Glaubens das ‚Vom Worte Gottes leben‘.“

Textauszüge:

„Glaube heißt zuallererst nicht, an etwas zu glauben, sondern eher an jemanden glauben. Glaube ist Vertrauen. Vertrauen verlangt Mut. Das Gegenteil von Glauben ist nicht Unglaube, sondern Misstrauen, Angst. Angst drückt sich darin aus, dass wir uns an alles klammern, was in unsere Reichweite kommt. Angst klammert sich sogar an Überzeugungen. Das Anklammern an Überzeugungen widerspricht echtem Glauben. Wir glauben an Gott, nicht an unsere spezielle Vorstellung von Gott. Das ist der Grund dafür, dass Menschen tiefen Glaubens im Herzen sind, obwohl ihre Überzeugungen weit auseinander gehen können… Glaube ist der Mut, aus Vertrauen zu den Gebenden für die Gabe jeder gegebenen Lage dankbar zu sein.“

Hoffnung: Offenheit für Überraschung

„Dankbarkeit setzt voraus, dass wir uns offen halten für das Leben als Überraschung. Jenseits all unserer Hoffnungen ist das Gebet der Hoffnung, Sammlung in Stille.“

Textauszüge:

„Es gibt eine enge Verbindung zwischen Hoffnung und Hoffnungen, aber wir dürfen die zwei nicht verwechseln. Unsere Hoffnungen sind auf etwas gerichtet, das wir uns vorstellen können. Unsere Hoffnung jedoch ist offen für das Unvorstellbare. Das Gegenteil von Hoffnungen ist Hoffnungslosigkeit. Das Gegenteil von Hoffnung ist Verzweiflung. Man kann verzweifeln und an seinen Hoffnungen festhalten. Aber selbst in hoffnungslosen Situationen bleibt Hoffnung offen für Überraschung. Überraschung verbindet die Hoffnung mit der Dankbarkeit. Das dankbare Herz findet alles Gegebene überraschend. Hoffnung bedeutet Bereitschaft zur Überraschung.“

Liebe: Ein ‚Ja zur Zugehörigkeit.

„Dankbarkeit setzt voraus, dass wir zum Geben-und-Nehmen bedingungslos ‚Ja‘ sagen. Jenseits all unseres Angezogen- und Abgestossenseins ist das Gebet der Liebe „contemplatio in actione“ – kontemplative Schau mitten im Handeln.“

Textauszüge:

„Wenn wir nach den Charakteristika von Liebe fragen, die für jede ihrer Formen zutrifft, dann finden wir zumindest zwei: ein Bewusstsein von des Zusammengehörens und die aus ganzem Herzen kommende Annahme dieses Zusammengehörens mit all seinen Folgen. Diese zwei Charakteristika sind für jede Art von Liebe typisch, von der Liebe zur Heimat bis zur Liebe zu einem Haustier, während leidenschaftliche Anziehung nur für das Sich-Verlieben typisch ist. Liebe ist ein ‚Ja‘ aus ganzem Herzen zum Zusammengehören. Wenn wir uns verlieben, dann ist unser Gefühl des Zusammengehörens überwältigend, unser ‚Ja‘ spontan und selig. Darin liegt aber eine Herausforderung, die Bandbreite unseres ‚Ja‘ auszudehnen, es unter weniger günstigen Bedingungen auszusprechen und letztlich sogar unsere Feinde einzuschließen.“

Zusammenfassung und Ergänzung

Der Originaltitel des Buches “Gratefulness – The Heart of Prayer” macht noch deutlicher als der deutsche Titel „Fülle und Nichts“, was Steindl-Rast im Wesentlichen vermitteln will. Er will „die Welt in Dankbarkeit verbinden“. So formuliert er es als sein zentrales Anliegen auf seiner Website „Dankbar leben”, die täglich von Tausenden in der ganzen Welt besucht wird. Dankbarkeit zu leben ist für ihn der Weg eines spirituellen Lebens, was er in den einzelnen Kapiteln des Buches begründet.

Sein Ausspruch zu Beginn des Buches „Dass du noch nicht gestorben bist, reicht nicht aus als Beweis, dass du wirklich lebst. Lebendigkeit bemisst sich am Grad deines Wachseins“ scheint seine eigentliche Motivation für diesen Weg der Dankbarkeit zu sein: Um dankbar sein zu können, muss man wach sein, muss man, in der Gegenwart leben. Wer überwiegend von seinem Autopiloten im Gehirn gelebt wird, ist zwar nicht tot, aber auch nicht wirklich lebendig. Ein Zitat von Oscar Wilde drückt dies so aus: „Wirklich zu leben ist eines der seltensten Dinge in der Welt. Die meisten Menschen existieren. Das ist alles“.

Das Staunen über etwas kann auch nur dann geschehen, wenn wir im Hier und Jetzt leben. Es weckt auf, wie er es mit dem Beispiel des Regenbogens beschreibt. Da ist sogar noch ein Staunen bei „ständig gelangweilten“ Menschen möglich. Das ist der Geist des Zen, Leben in der Gegenwart und Wahrnehmen dessen, was ist. Das schreibt der Zen-Lehrer, der als einer der ersten christlichen Mönche in einem buddhistischen Zen-Kloster lebte. Man kann einen Zustand kultivieren, der es ermöglicht, immer wieder aufs Neue erstaunt und überrascht sein zu können. Im Zen wird diese Grundhaltung als „Beginner-Geist“ bezeichnet. In diesem Zustand bemüht man sich, die Dinge aber auch die Menschen immer wieder neu, frisch zu sehen, ohne Projektionen, die auf der Vergangenheit basieren. Jon Kabat Zinn beschreibt dies sehr gut u.a. in einem Vortrag „Kultivierung von Achtsamkeit“

Im Kapitel „Kontemplation und Muße“ macht Steindl-Rast deutlich, dass wir uns wieder mehr Zeit nehmen müssen, um in der Schau nach Innen mit unserer Intuition in Kontakt zu sein. Das gibt uns die Klarheit, richtig zu handeln und Entscheidungen zu treffen, in dem, wie er schreibt, „Einsicht und Handeln zu einer Einheit finden“.

Seine Definition von Glauben hat nichts mit Glauben an etwas zu tun. Glaube ist für ihn gekoppelt mit Vertrauen, wie es der englische Begriff „faith“ es benennt: „völliges Vertrauen“
Faith wird auch ins Deutsche mit Glaube übersetzt. Mit „belief“ ist im Englischen mehr das Glauben an etwas gemeint.

Im Vorwort zu diesem Buch schreibt Willigis Jäger, auch Benediktiner und Zen-Meister, dass Steindl-Rast in seinen Vorträgen und Veröffentlichungen ein neues Gottesbild aufzeigt, das die Vorstellung eines vom Menschen getrennten Gottes ablöst. „Gott ist die Quelle, in die wir völlig eingetaucht sind, Gott lebt in uns und wir leben in Gott. In Dankbarkeit geben wir uns selbst und die ganze Welt zurück in diesen Ursprung.“


Quelle der Zitate

David Steindl-Rast
„Fülle und Nichts“
Kreuz Verlag ISBN 978-3-451-61345-6

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Orientierung finden v. Steindl-Rast

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